European Insolvency & Restructuring Restrukturierung
Ulrich Haas

Der präventive Restrukturierungsrahmen – zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht

Die EU hat die Richtlinie über präventive Restrukturierungrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU (RRiL) am 6.6.2019 verabschiedet. Die RRiL will Unternehmen den Zugang zu präventiven Restrukturierungsmaßnahmen im Vorfeld des Insolvenzverfahrens eröffnen. Die Mitgliedstaaten haben nunmehr zwei Jahre Zeit für die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht. Dies wird kontrovers diskutiert, sieht man doch in der RRiL überwiegend einen Angriff auf die Kernelemente der InsO (z.B. Frind, NZI 2018, 431; Kayser, ZIP 2017, 1393).

Nationale Gesetzgeber bestimmen die Ausgestaltung

Die RRiL selbst bestimmt nicht, dass die InsO dem Restrukturierungsrahmen zu weichen habe. Der zeitliche Anwendungsbereich der RRiL ist bei einer „wahrscheinlichen Insolvenz“ eröffnet. Die Definition dieses Begriffs überlässt die RRiL – ebenso wie die Ausgestaltung des Begriffs „Insolvenz“ – dem nationalen Gesetzgeber. Aus dem Gesamtzusammenhang der RRiL folgt lediglich, dass ihr zeitlicher Anwendungsbereich dem Insolvenzverfahren vorgelagert sein muss (Abstandsgebot). Diese „Definitionsverweigerung“ ist mitunter heftig kritisiert worden (Bork, ZIP 2017, 1441 [1446]; Frind, NZI 2018, 431). Die Trennlinie zwischen Gesellschafts- (soweit es sich bei dem Schuldner um eine Gesellschaft, zumeist um eine GmbH, handelt) und Insolvenzrecht wird durch die Insolvenzauslösetatbestände markiert. Wo letztlich das Gesellschaftsrecht „aufhört“ und das Insolvenzrecht „beginnt“, ist eine – durch Empirie kaum unterlegte – rechtspolitische Entscheidung. Hier gibt es – international besehen – einen weiten Spielraum. Eben diesen Spielraum bei der Ausgestaltung des Zusammenspiels zwischen der insolvenz- und gesellschaftsrechtlichen Ordnungsebene respektiert die RRiL (zu Recht), wenn sie es dem nationalen Gesetzgeber überlässt, wie er das Abstandsgebot im nationalen Recht umsetzen möchte.

Aus dem Abstandsgebot folgt keinesfalls, dass der Restrukturierungsrahmen im deutschen Recht auf Kosten des zeitlichen Anwendungsbereichs der InsO umzusetzen wäre. Zulässig wäre es zwar – wie überwiegend vorgeschlagen –, den bisherigen Überschuldungstatbestand zu streichen und/oder zu modifizieren (Freitag, ZIP 2019, 541 [550]; Gruber, EuZW 2019, 181 [184 f.]), um dadurch in zeitlicher Hinsicht „Platz“ für ein vorinsolvenzrechtliches Sanierungsverfahren zu schaffen. Aus europarechtlicher Sicht ist jedoch ein solcher „Frontalangriff“ auf die InsO nicht vorgegeben, ja nicht einmal angedeutet. Ist der Gesetzgeber aber frei, wie er den ihm zustehenden weiten Ermessenspielraum nutzt, sollte er sich bei der Umsetzung der RRiL allein von verfassungsrechtlichen Vorgaben und ökonomischer Sinnhaftigkeit leiten lassen.

Rechtfertigung für (Zwangs-)Eingriffe in Beteiligtenrechte

Verfassungsrechtlich wird argumentiert, dass (Zwangs-)Eingriffe in die Rechte der Beteiligten mit Blick auf Art. 14 GG nur bei Vorliegen einer „Insolvenz“, nicht aber in deren Vorfeld zu rechtfertigen seien (vgl. Ganter, FS Wimmer, 2017, S. 187 [200 und 214 f.]). Dieser Annahme liegt unausgesprochen zugrunde, dass es sich bei der „Insolvenz“ um einen klar definierbaren Tatbestand handelt. Das trifft jedoch nicht zu (Flessner, KTS 2010, 127 [146]). Vielmehr handelt es sich hierbei um ein „Kontinuum“, das mehr oder weniger genau durch die Insolvenztatbestände jetziger Prägung abgebildet wird. Dem Gesetzgeber kommt damit auch verfassungsrechtlich ein (weites) Entscheidungsermessen zu, ab welchem Stadium der wirtschaftlichen Abwärtsentwicklung er Zwangseingriffe in die Beteiligtenrechte zulassen will. Dass mit den bestehenden Auslösetatbeständen der Ermessensspielraum (nach oben) bereits ausgereizt wäre, wird man – mit Blick auf die derzeitigen Ausfallquoten ungesicherter Gläubiger und die durchschnittliche Schadenssumme pro Insolvenzfall – kaum annehmen können.

Eine Einbettung des Restrukturierungsrahmens „auf Kosten“ des zeitlichen Anwendungsbereichs der InsO ist auch ökonomisch wenig sinnvoll. Sie liefe nicht nur den Zielvorstellungen des damaligen InsO-Gesetzgebers zuwider, sondern würde auch ignorieren, dass Insolvenzverfahren zum Nachteil der Gläubiger auch heute noch ganz generell zu spät eröffnet werden. Darüber hinaus überzeugt es nicht, das bislang im Zeitraum ab Eintritt der Überschuldung mögliche, mit §§ 270a f. InsO gekoppelte Insolvenzplanverfahren unter Zurückdrängung des Insolvenzverfahrens schlicht in ein vorinsolvenzrechtliches Restrukturierungsverfahren umzuetikettieren. Weder werden den Beteiligten hierdurch neue oder bessere Möglichkeiten der Sanierung eingeräumt, noch wird ein wirklich sinnvoller Beitrag zur Insolvenzvermeidung geleistet. Dagegen dürfte unstreitig sein, dass das bestehende gesellschaftsrechtliche System der Insolvenzprophylaxe verbesserungsfähig ist (Haas, in Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, E. 104 ff.). Für ein das Gesellschaftsrecht ergänzendes, außerhalb des Insolvenzrechts geregeltes Sanierungsverfahren gibt es zudem zahlreiche Beispiele im europäischen Ausland.

Beachte | Das gilt – mit Blick auf Österreich – auch für solche Rechtsordnungen, die den Auslösetatbestand der Überschuldung kennen.

Mitunter wird behauptet, dass eine Doppelung vorinsolvenzrechtlicher und insolvenzrechtlicher Sanierungsinstrumente ökonomisch nicht sinnvoll sei und zu einer „kaum überschaubaren Zersplitterung der Rechtsregime [führe]“ (Freitag, ZIP 2019, 541 [550]). Diese Kritik überzeugt nicht. So gibt es etwa auch ein der InsO vorgelagertes gesellschaftsrechtliches Liquidationsverfahren (§§ 66 ff. GmbHG). Dieses erfüllt vergleichbare Ordnungsziele wie das insolvenzrechtliche Liquidationsverfahren, stehen doch hier wie dort die Befriedigung der Gläubigerinteressen und die Vollabwicklung des Unternehmensträgers im Vordergrund. Niemand käme aber auf die Idee, in dem Vorhalten zweier Liquidationsverfahren eine unüberschaubare Zersplitterung der Rechtsregime oder gar eine Entwertung des Insolvenzverfahrens zu sehen. Ist aber im Gesellschaftsrecht Platz für eine „kleine Schwester“ des insolvenzrechtlichen Liquidationsverfahrens, dann ist nicht einzusehen, warum eine sinnvoll ausgestaltete – und heute ja im Ansatz bereits bestehende – Doppelung mit Bezug auf Sanierungen von vornherein abzulehnen sein sollte.

Zum Schluss | Entgegen der überwiegenden Ansicht in der deutschen Literatur stellt der präventive Restrukturierungsrahmen keinen „Generalangriff“ auf das nationale Insolvenzrecht dar. Vielmehr zielt die RRiL auf die – stets aktuelle – Schnittstelle zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht. Bei der Umsetzung in das nationale Recht, sollte der Gesetzgeber die RRiL nicht auf Kosten des zeitlichen Anwendungsbereichs der InsO umsetzen, sondern vielmehr den präventiven Restrukturierungsrahmen im Vorfeld der jetzigen Insolvenzauslösegründe platzieren.

Ziel muss es sein, den bestehenden (gesellschaftsrechtlichen) Instrumentenkasten für Sanierungen zu ergänzen; denn dieser weist im bestehenden Recht die größten Defizite auf. Verfassungsrechtliche Bedenken stehen dem nicht entgegen. Auch entstehen durch die „Doppelung“ außerinsolvenzrechtlicher und insolvenzrechtlicher Sanierungsinstrumente keine unüberwindbaren Schwierigkeiten. Für das Insolvenzrecht bedeutet dies, dass allenfalls Randkorrekturen notwendig sind. Größerer Änderungsbedarf ergibt sich demgegenüber aus dem Zusammenspiel zwischen dem präventiven Restrukturierungsrahmen und dem Gesellschaftsrecht.