Global Taxes Doppelbesteuerungsabkommen
Prof. Dr. Lars Hummel

Herausforderung der Abkommensidee durch das Update 2017 des OECD-MA

Im Vergleich zu den in den letzten Jahren vorgenommenen Modifikationen des OECD-MA führt das Update 2017 zu einem weitreichenden Eingriff in dessen Textkörper. Es steht im Zusammenhang mit dem Bestreben, dem Phänomen der Steuervermeidung auf Abkommensebene eine höhere Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Doch heiligt bekanntlich der Zweck nicht jedes Mittel – eine Einsicht, die ebenfalls die Aufmerksamkeit der Urheber der Modifikationen verdient hätte.

Exempel 1: Modifikation betreffend die Abkommensauslegung

Die in Art. 3 Abs. 2 OECD-MA aufgeführten und gereihten Methoden der Abkommensauslegung erfuhren durch das Update 2017 eine Erweiterung. Einem Rückgriff auf das im Recht des Anwendestaates etablierte Begriffsverständnis geht nun nicht mehr nur die Begriffsbestimmung nach Maßgabe des Abkommenszusammenhangs voraus, sondern ebenso die Begriffsbestimmung nach Maßgabe dessen, was die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten im Wege des Art. 25 OECD-MA als Begriffsinhalt vereinbaren. Dass dieser Begriffsinhalt von jenem abweichen kann, der sich nach Maßgabe des erwähnten Abkommenszusammenhangs ergibt, ist im Wortlaut bereits berücksichtigt („a different meaning“) und das heißt: zugunsten der abweichenden Vereinbarung der zuständigen Behörden entschieden.

Hinweis | Einem Zustimmungs- bzw. Transformationsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, das den modifizierten Art. 3 Abs. 2 OECD-MA in sich aufnimmt, kann eine Ermächtigung der zuständigen Behörden zur freien Bestimmung der im innerstaatlichen Rechtskreis zur Anwendung gelangenden Begriffsinhalte und damit Normgehalte durchaus nicht entnommen werden. Anderenfalls würden die verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsetzungsdelegation an die Exekutive überschritten, die daraus resultieren, dass mögliche Regelungsgegenstände durch die Legislative in ihren Konturen antizipiert, mithin gesteuert und begrenzt werden müssen.

Exempel 2: Modifikation betreffend doppelt ansässige nicht natürliche Personen

Ebenso wie die Voraussetzungen der unbeschränkten Einkommen- oder Körperschaftsteuerpflicht in mehr als einem Staat einzutreten vermögen, können sich auch die Voraussetzungen der Ansässigkeit nach Art. 4 Abs. 1 OECD-MA in beiden Vertragsstaaten realisieren (sog. Doppelansässigkeit). Weil aber die DBA in ihren Verteilungs- (vgl. Art. 6 ff. OECD-MA) und Methodenartikeln (vgl. Art. 23A f. OECD-MA) von einer Grundkonzeption ausgehen, nach welcher einer der beiden Vertragsstaaten der – in sei-nem Besteuerungsrecht eingehegte – Quellenstaat und der andere der beiden Vertragsstaaten der – zur Vermeidung der Doppelbesteuerung berufene – Ansässigkeitsstaat ist, bedarf es für die Zwecke der Abkommensanwendung einer (rechtlichen) Eliminierung der Doppelansässigkeit.

Diese Aufgabe übernimmt für diejenigen Personen, die keine natürlichen Personen sind, Art. 4 Abs. 3 OECD-MA. Während danach bislang derjenige Vertragsstaat als Ansässigkeitsstaat angesehen wurde, in welchem sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung befindet, gilt nach dem Update 2017 derjenige Vertragsstaat als Ansässig-keitsstaat, den die zuständigen Behörden als solchen im gegenseitigen Einvernehmen bestimmen. Für den Fall, dass sich ein solches Einvernehmen nicht herstellen lässt, besteht nach der Neufassung der Norm kein Anspruch auf die im Abkommen vorgesehenen Steuerentlastungen und -befreiungen oder nur insofern Anspruch darauf, als sie von den zuständigen Behörden der Vertragsstaaten vereinbart worden sind.

Exempel 3: Modifikation betreffend die Vermeidung der Doppelbesteuerung bei trans-parent besteuerten Rechtsgebilden

Durch das Update 2017 finden sich Art. 23A Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und Art. 23B Abs. 1 Satz 1 OECD-MA um einen Klammerzusatz erweitert, der die Vermeidung der Doppelbesteuerung sowohl in der Konstellation der Steuerfreistellung als auch in der Konstellation der Steueranrechnung einem Vorbehalt unterwirft. Letzterer zielt darauf, den Ansässigkeitsstaat insoweit nicht zur Vermeidung der Doppelbesteuerung zu verpflichten, als sich das Besteuerungsrecht des anderen Vertragsstaates nach dem Abkommen nur darauf gründet, dass die betreffenden Einkünfte auch Einkünfte einer dort ansässigen Person sind oder das betreffende Vermögen auch Vermögen einer dort ansässigen Person ist. Beruht die Besteuerung im anderen Vertragsstaat allein auf dem Umstand einer dort angenommenen Ansässigkeit, so wird keiner der Vertragsstaaten abkommensrechtlich in die Pflicht genommen, Doppelbesteuerung zu vermeiden. Der Vorbehalt kann vor allem beim Auftreten solcher Rechtsgebilde zum Tragen kommen, die in dem einen, nicht aber in dem anderen Vertragsstaat eine transparente Besteuerung erfahren (wie sie insbesondere § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vorsieht).

Hinweis | In diesen Fällen scheidet ein Verständigungsverfahren gemäß Art. 25 Abs. 1 und 2 OECD-MA aus, weil keine Besteuerung in Rede steht, die dem Abkommen nicht entspricht – im Gegenteil, sie entspricht (nunmehr) dem Abkommen.

Bewertung: Herausforderung der Abkommensidee

Wird die Bestimmung des Inhalts im Abkommen verwandter Begriffe und damit letztlich des Gehalts von Abkommensnormen einer Vereinbarung der zuständigen Behörden überlassen (Exempel 1), sind die Besteuerungsfolgen grenzüberschreitender Sachverhalte als solche dem Abkommen nicht mehr verbindlich zu entnehmen. Das gilt zumal, wenn sich die vereinbarten Begriffsinhalte vom Abkommenszusammenhang emanzipieren dürfen. Die Besteuerungsfolgen grenzüberschreitender Sachverhalte sind als solche dem Abkommen auch dann nicht mehr verbindlich zu entnehmen, wenn in den durchaus nicht seltenen Fällen einer Doppelansässigkeit nicht natürlicher Personen die im Abkommen vorgesehenen Steuerentlastungen und -befreiungen allein davon abhängen, ob die zuständigen Behörden den Ansässigkeitsstaat in gegenseitigem Einvernehmen zu bestimmen vermögen (Exempel 2).

Eine solche Konzeption erzeugt zunächst ein Spannungsverhältnis zu den Anforderungen des rechtsstaatlichen Prinzips. Die Besteuerungsfolgen lassen sich nämlich nur in Form von Alternativprogrammen, nicht hingegen in Form bestimmter Resultate gewinnen; Rechtssicherheit erwächst auf diesem Wege nicht.

In nämlicher Konzeption findet sich des Weiteren der spezifische abkommensrechtliche Regelungsanspruch aufgehoben, denn in materieller Hinsicht „regelt“ das Abkommen nicht mehr selbst, verzichtet auf eine eigene Regulierung der Besteuerungsfolgen und damit nicht zuletzt auf die Erreichung des expressis verbis ausgewiesenen Ziels der Vermeidung von Doppelbesteuerung. Im Vergleich zu einer völkerrechtlichen Ad-hoc-Vereinbarung, die stattdessen zwischen den betreffenden Staaten herbeigeführt werden könnte, beschränken sich die Vorzüge des Aufgreifens im DBA namentlich darauf, dass der Verkehr der zuständigen Behörden den Förmlichkeiten des diplomatischen Protokolls entzogen ist (vgl. Art. 25 Abs. 4 OECD-MA). Dass sich namentlich die Anwendung des Art. 4 Abs. 3 OECD-MA in seiner bisherigen Fassung nicht in jedem Fall frei von Schwierigkeiten erwies (dazu und zur Bewertung dessen jüngst Rust, SWI 2017, 647 [650 f.]), ändert an vorstehender Einschätzung nichts, ist vielmehr unvermeidbarer Ausfluss abstrakt-genereller Normsetzung.

Kritik verdient auch die Durchbrechung der Verpflichtung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung in dem Fall, dass die Besteuerung im anderen Vertragsstaat („Quellenstaat“) allein auf dem Umstand einer dort angenommenen Ansässigkeit beruht (Exempel 3). Die Risiken der unterschiedlichen rechtlichen Einordnung von Rechtsgebilden, derer sich der Steuerpflichtige für seine grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Aktivitäten bedient, werden insoweit ungeteilt auf den Steuerpflichtigen abgewälzt. Das ist umso bemerkenswerter, als die unterschiedliche rechtliche Einordnung von Rechtsgebilden eine typische Folge der Berührung verschiedener (Steuer-)Rechtsordnungen bildet, welche die Notwendigkeit einer diese Folge konstruktiv bewältigenden vertraglichen Regelung zwischen den betreffenden Staaten geradezu plakatiert. Anders gewendet: Dort, wo gerade das DBA Vorsorge treffen sollte, wird nunmehr auf einen konstruktiven Regulierungszugriff verzichtet und insoweit der Eigenanspruch, Doppelbesteuerung zu vermeiden, schlicht ausgesetzt.

Ausblick | Prognostiziert werden darf die Ausweitung der steuerlichen Kollateralschäden. Denn das Update 2017 des OECD-MA transportiert einen Effekt, der sich bislang vor allem im innerstaatlichen Rechtskreis entfaltete, auf die Ebene der DBA: Unerwünschte steuerliche Gestaltungen veranlassen abwehrende Regelungen, deren Kennzeichen gerade auch darin bestehen, dass sie in erheblichem Umfange auch diejenigen nachteilig treffen, die eine den wirtschaftlichen Vorgängen angemessene Gestaltung wählen.