Ende der pauschalen Vermögenssteuer in den Niederlanden
In einem Urteil vom 24. Dezember 2021 hat das höchste niederländische Steuergericht (Hoge Raad, v. 24.12.2001, ECLI:NL:HR:2021:1963) entschieden, dass die pauschale Vermögenssteuer in der Einkommensteuer gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Die Steuer entspricht nicht dem Gleichheitsgrundsatz und verstößt gegen das Recht auf Eigentum.
Hintergrund zur pauschalen Vermögenssteuer
Ab 2001 wurden Einkünfte aus privaten Kapitalanlagen in den Niederlanden auf der Grundlage eines pauschalen Ertrags von 4 v.H. besteuert. Dieser Teil der Einkommensteuer ist die dritte von drei „Boxen“. Sie wird als Kapitalertragssteuer bezeichnet. Dieses Feld umfasst alle Formen von Kapital mit Ausnahme von Betriebsvermögen, selbst genutztem Wohneigentum, Genussrechten und Paketen mit Anteilen von mehr als 5 v.H. an KGs und GmbHs. Auch die Schulden, mit denen diese Vermögenswerte erworben wurden, gehören zu „Box 3“.
Der Steuerpflichtige wurde nicht nach dem tatsächlich erzielten Ergebnis besteuert, sondern nach einem pauschalen Renditesatz von 4 v.H. Es wurde davon ausgegangen, dass jeder in der Lage ist, eine Nettorendite von 4 v.H. in Form von Dividenden, Zinsen oder Mieten bzw. in Form einer Wertsteigerung des Vermögens zu erzielen. Letzteres galt zum Beispiel auch für den Besitz von Edelmetallen, die ja keine direkte Rendite abwerfen. Die Abgabe beschränkte sich auf einen recht niedrigen Ertrag, der dem langfristigen Durchschnitt der regelmäßigen Einkommen entsprach. Das Einkommen blieb unversteuert, soweit es 4 v.H. überstieg. Im Allgemeinen handelte es sich dabei um spekulative Kapitalgewinne, die auch unter der alten Regelung nicht besteuert wurden. Wer in einem Jahr weniger als 4 v.H. Rendite erwirtschaftete, musste dies im Laufe mehrerer Jahre wieder aufholen. Der Pauschalsatz von 4 v.H. galt von 2001 bis einschließlich 2016.
Veränderung im Jahr 2017
Die Regelung wurde jedoch nicht unter einem guten Stern erlassen. Denn die Boomjahre der 1990er Jahre gingen bald in den Beginn des neuen Jahrhunderts über. Renditen von bis zu 4 v.H. wurden nicht mehr „im Ruhezustand“ und schon gar nicht auf Sparguthaben erzielt. Schon bald wurde die Regelung, die anfangs als „Spaßkiste“ bezeichnet wurde, kritisiert, weil sie in vielen Jahren mehr Steuern einbrachte, als die Steuerzahler verdienten. Häufig wurden diese Defizite in anderen Jahren nicht ausgeglichen.
In einem Urteil aus dem Jahr 2016 (Hoge Raad v. 10.6.2016, na conclusie advocaat-general Niessen, ECLI:NL:HR:2016:1129) hat der Oberste Gerichtshof die Regelung nicht rundweg abgelehnt. Sie wies jedoch darauf hin, dass überwacht werden müsse, ob es für die Steuerzahler noch eine reale Möglichkeit gebe, über mehrere Jahre hinweg eine durchschnittliche Rendite von 4 v.H. zu erzielen. Das Parlament äußerte bald den Wunsch, zu einem System zurückzukehren, bei dem die Kapitalerträge nach ihrem realen Ertrag besteuert werden. Die Regierung erklärte, sie sei grundsätzlich dazu bereit, halte eine solche Regelung aber für äußerst kompliziert. Als Zwischenschritt auf dem Weg zu einem solchen System wurde daher Box 3 mit Wirkung von 2017 geändert. Ab diesem Zeitpunkt wurde eine niedrige und eine hohe Pauschalverzinsung für Sparguthaben bzw. andere Vermögenswerte gesetzlich geregelt. Die beiden gesetzlichen Durchschnittswerte wurden jährlich auf der Grundlage der in den Vorjahren auf dem Markt erzielten Renditen angepasst. Diese Durchschnittswerte lagen in der Größenordnung von 0,5 v.H. für Ersparnisse und 5 v.H. für andere Vermögenswerte.
Hinweis | Gleichzeitig wurde eine Fiktion eingeführt: Bei Personen mit geringem Vermögen wurde davon ausgegangen, dass sie den größten Teil davon in Ersparnisse investiert haben, während bei Personen mit größerem Vermögen davon ausgegangen wurde, dass sie einen zunehmenden Betrag in andere Vermögenswerte investiert haben. Diese Regel wird als Kapitalanlagenmischung oder Vermögensmix bezeichnet.
Kritik an der neuen Regelung – Entscheidung des Hoge Raad
Die Anhäufung von Pauschalbeträgen und Begriffen hat die Realitätsnähe der Steuer ab 2017 nicht erhöht, obwohl genau das die Absicht der Gesetzesänderung war. Die jährliche Ermittlung der tatsächlichen durchschnittlichen Renditen von Sparguthaben und anderen Vermögenswerten war eine gute Maßnahme: Sie brachte die Bemessungsgrundlage näher an die Realität als der feste Prozentsatz von 4 v.H. Die fiktive Verteilung der Vermögensarten wurde aber als eine grundsetzlich ungerechte Maßnahme empfunden.
Die Vermögensertragssteuer geriet daher zunehmend unter Beschuss. Sowohl im Parlament als auch in der Literatur wurden die Rufe nach einer neuen Regelung immer lauter. Schließlich wandten sich bis zu 60.000 Steuerzahler mit ihren Einwänden an die Gerichte. Sie argumentierten, das Gesetz verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.
Der Fall, mit dem der Oberste Gerichtshof zuerst befasst wurde, betraf einen Steuerpflichtigen mit einem Vermögen von etwa 1 Million Euro. Diese Person legte 80 v.H. ihres Vermögens in Ersparnissen an, wurde aber so besteuert, als hätte sie den Großteil ihres Vermögens in andere Anlagen wie Aktien investiert. Die Steuer auf der Grundlage des fiktiven Vermögensmixes war um Tausende von Euro höher, als wenn die Steuer auf der Grundlage seiner tatsächlichen Anlageentscheidungen festgesetzt worden wäre.
Der Oberste Gerichtshof wies darauf hin, dass die Besteuerung nach einem pauschalen Kapitalertrag zu einer Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen führt, da die von den einzelnen Steuerpflichtigen erzielten Erträge sehr unterschiedlich sein können. Der Oberste Gerichtshof hatte bereits in früheren Urteilen darauf hingewiesen, ohne die Regelung als solche für gleichheitswidrig zu erklären. Darüber hinaus hatte er bereits 2016 darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber überwachen müsse, ob die Pauschalregelung ausreichend realitätsnah sei. Außerdem hatte die Regierung noch im Jahr 2021 angekündigt, dass mit neuen Rechtsvorschriften nicht vor 2025 zu rechnen sei.
Entscheidend war offenbar der vierte Punkt, nämlich dass das Gesetz die eigenen Investitionsentscheidungen der Steuerzahler ignorierte. Der Oberste Gerichtshof sah darin einen Verstoß gegen das Eigentumsrecht und damit letztlich auch gegen den Gleichheitsgrundsatz. Nach Artikel 1 des ersten Protokolls zur Menschenrechtenkonvention kann die Besteuerung das Recht auf Eigentum verletzen. Dabei muss jedoch u.a. ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen des Einzelnen und dem öffentlichen Interesse gewahrt werden. Der Oberste Gerichtshof entschied, dass die seit 2017 geltende Verordnung dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht standhält.
Beachte | Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs bedeutet, dass die Verordnung gegen den Vertrag verstößt. Dies bedeutet, dass ein Steuerpflichtiger, der rechtzeitig Einspruch eingelegt hat, eine Steuererleichterung in Anspruch nehmen kann, wenn die gesetzliche Vermögensteuer ab 2017 für ihn höher ist, als wenn seine tatsächliche Erklärung zugrunde gelegt worden wäre.
Bedeutung des Urteils
Das Urteil vom 24. Dezember 2021 ist insofern eine Besonderheit, als es einen ganzen Abschnitt des Gesetzes für vertragswidrig erklärt. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Steuerkammer des Obersten Gerichtshofs bei solchen Eingriffen zurückhaltend ist. Dies hat damit zu tun, dass in den Niederlanden der Richter ein Gesetz nicht für unwirksam erklären darf, weil es gegen die Verfassung verstößt. Er kann dies tun, wenn ein Vertrag gebrochen wird, aber der Gesetzgeber betrachtet dies mit einem gewissen Misstrauen, und das Gericht fühlt sich daher mit solchen Eingriffen nicht wirklich wohl.
Dennoch hat der Oberste Gerichtshof in diesem Urteil einige wichtige Entscheidungen zur Anwendung der Menschenrechte im Steuerrecht getroffen. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Entscheidungen die höchstrichterliche Rechtsprechung in anderen Ländern auf dem Wege der Rechtsvergleichung beeinflussen werden. Es sollte jedoch bedacht werden, dass die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention in den Händen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegt. Meines Erachtens können die Urteile des Obersten Gerichtshofs als Anwendung der früheren Rechtsprechung dieses Gerichts angesehen werden.
Die erste innovative Entscheidung betrifft die Bewertung von Pauschalregelungen im Steuerrecht. In seinem Urteil aus dem Jahr 2016 stellte der Oberste Gerichtshof fest, dass eine solche Regelung nicht grundsätzlich gegen den Vertrag verstößt, wies aber darauf hin, dass der Gesetzgeber weiterhin prüfen muss, ob der Pauschalbetrag in ausreichendem Maße mit der Realität übereinstimmt. Es ist plausibel, dass der Oberste Gerichtshof dabei auch an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg in der Rechtssache Sopora dachte. In diesem Urteil (ECLI:EU:C:2015:108) stellte der Gerichtshof fest, dass eine Pauschalregelung naturgemäß einen begrenzten Spielraum in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten zulässt. Der Oberste Gerichtshof hat gezeigt, dass dieser Spielraum nicht „unendlich“ ausgedehnt werden kann, auch wenn keine konkrete Grenze festgelegt wurde. Weitere Informationen hierzu finden sich in einem früheren Schlussantrag von Generalanwalt Wattel (vgl. Conclusio van A-G Wattel v.25.5.2021, ECLI:NL:PHR:2021:293). Die Breite des Spielraums ist bei dieser Regelung besonders groß, weil so viele verschiedene Formen von Eigentum abgedeckt werden.
Die zweite wichtige Entscheidung betrifft das Urteil, dass das Eigentumsrecht die Beschränkung der Verfügungsbefugnis über das Eigentum verbietet (vgl. ECLI:NL:PHR:2021:1019). Die Mischung der Vermögenswerte stellt sicher, dass ein Steuerzahler, der die „falsche“ Wahl trifft, für eine höhere Rendite besteuert wird, als die, die rechtlich gesehen zu den Anlagen gehören würde, die er tatsächlich besitzt. In der Praxis handelt es sich um Fälle, in denen der Steuerpflichtige einen größeren Teil seines Vermögens in Ersparnisse investiert, als es das Gesetz für seine Situation vorsieht. Der Steuerzahler kann sich in seiner Entscheidung eingeschränkt fühlen, aus welchen Gründen auch immer. Die restriktive Wirkung des Gesetzes kann auch darin zum Ausdruck kommen, dass der Gesetzgeber nicht bereit ist, den Willen des Steuerpflichtigen bei der Wahl seiner Investitionen zu respektieren.
Die letztgenannte Formulierung impliziert, dass nicht jede Einschränkung der Verfügungsgewalt verboten ist. Er darf in der Tat „lenken“. So ist es beispielsweise grundsätzlich zulässig, dass das Steuerrecht zwischen Investitionen danach unterscheidet, ob sie „grün“ sind oder nicht, solange es der Wahl des Steuerpflichtigen bei der Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage und des Steuersatzes folgt.
Zum Schluss | Das hier besprochene Urteil bedeutet einen kleinen Erdrutsch für das niederländische Steuerrecht. Die Entscheidung über die zulässige Spanne bei einer Pauschalnorm und die Entscheidung über das Eigentumsrecht und die Verfügungsfreiheit über Eigentum färben die Menschenrechte in Steuersachen. Sie vervollständigen die vom Straßburger Gerichtshof gesetzten Standards und könnten einen Dominoeffekt in der Rechtsprechung anderer europäischer Staaten auslösen.