European Tax Jurisdiction Mehrwertsteuer
Hans-Hermann Heidner

Zum Zeitpunkt der Steuerentstehung bei Sollversteuerung

Ein Landwirt, der eine Vereinbarung mit der DB Netz AG trifft, in der er der Aufhebung seines Privatweg-Bahnübergangs zustimmt und die DB Netz AG sich zum Bau eines Ersatzwegs und zur Zahlung eines Entschädigungsbetrags verpflichtet, erbringt durch die Rücknahme seiner vor dem Verwaltungsgericht geführten Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss, mit der er versucht hatte, die Schließung seines Privatweg-Bahnübergangs zu verhindern, eine steuerbare und steuerpflichtige Leistung. Auf den Zeitpunkt der Entrichtung des Entgeltes kommt es dabei für die Steuerentstehung bei Sollversteuerung nicht an. (BFH-Urteil v. 22.08.2019 – V R 47/17).

Da § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 3 UStG nicht unionsrechtskonform auslegbar ist, setzt die Anwendung von Art. 64 MwStSystRL (bis 31.12.2006 Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 77/388/EWG) voraus, dass der Steuerpflichtige sich auf die Vorschrift beruft.

Zugrunde liegender Sachverhalt

Beim Bau einer parallel zu einer Bundesstraße gelegenen Eisenbahnlinie wurde von der Eisenbahngesellschaft für den Kläger, einem Landwirt, ein Übergang über die Bahngleise geschaffen. Der Bahnübergang gewährleistete den unmittelbaren Zugang von der Hofstelle zu den landwirtschaftlich genutzten Eigentumsflächen des Klägers. Die DB Netz AG beabsichtigte aus Sicherheitsgründen die Schließung des Privatweg-Bahnüberganges. Mit Planfeststellungsbeschluss vom 14.10.2003 wurde der Plan der DB Netz AG für die Schließung des Bahnübergangs festgestellt. In dem Beschluss war festgelegt, dass die Schließung des Bahnübergangs erst erfolgen durfte, wenn ein Ersatzweg fertiggestellt ist und dem Kläger für die nach der Schließung entstehenden Mehrwege eine Entschädigung zu leisten war. Der Kläger versuchte mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht gegen den Planfeststellungsbeschluss die Schließung seines Bahnübergangs zu verhindern.

Mit Vereinbarung vom 18.05.2005 zwischen der DB Netz AG und dem Kläger stimmte der Kläger der Aufhebung des Bahnübergangs zu. Die DB Netz AG verpflichtete sich demgegenüber zum Bau eines Ersatzwegs und zur Zahlung eines Entschädigungsbetrags. Auch die aus der Entschädigungszahlung entstehenden Steuerbelastungen sollten dem Kläger von der DB Netz AG erstattet werden. Der Bahnübergang sollte erst nach Fertigstellung der Sicherungsanlage an einem anderen Bahnübergang, zu dem der zu bauende Ersatzweg führte, und nach Fertigstellung des Ersatzwegs geschlossen werden. Die Entschädigungszahlung war nach Schließung des Bahnübergangs zu zahlen. Die verwaltungsgerichtliche Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss nahm der Kläger am 18.05.2005 zurück. Die Schließung des Bahnübergangs erfolgte im Streitjahr 2006.

Der Kläger erhielt Zahlungen in den Jahren 2006, 2008, 2010/2011 und 2012/2013 in Höhe von insgesamt 212.181,98 €. Das FA sah die gezahlten 212.181,98 € als (Brutto-) Entgelt für eine steuerpflichtige Leistung an und setzte die darin enthaltene Umsatzsteuer in Höhe von 29.266,49 für das Streitjahr 2006 fest.

Entscheidung des Bundesfinanzhofs

Bei der Rücknahme der Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss vor dem Verwaltungsgericht durch den Kläger handelte es sich umsatzsteuerrechtlich um eine steuerbare und steuerpflichtige Leistung. Denn zwischen der Klagerücknahme und der Verpflichtung der DB Netz AG zum Bau eines Ersatzwegs und zur Zahlung eines Entschädigungsbetrags bestand durch die Vereinbarung vom 18.05.2005 ein unmittelbarer Zusammenhang.

Die vom Kläger erbrachte Leistung ist die im Zuge der Vereinbarung vom 18.05.2005 am selben Tag erklärte Klagerücknahme und die Steuer gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a UStG damit vor dem Streitjahr 2006 ent-standen. Die Steuer entsteht nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Sätze 1 und 2 UStG für Lieferungen und sonstige Leistungen bei der Berechnung der Steuer nach ver-einbarten Entgelten (§ 16 Abs. 1 Satz 1 UStG) mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen oder Teilleistungen ausgeführt worden sind (sog. Soll-besteuerung). Die Vorschrift beruht unionsrechtlich auf Art. 64 MwStSystRL (Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 77/388/EWG). Danach treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.

Rücknahme der Klage als Leistung

Die Leistung des Klägers hat in der Rücknahme der Klage am 18.05.2005 bestanden. Auf den Zeitpunkt in dem das Entgelt (hier die „Entschädigungszahlung“ und die Errichtung des Ersatzwegs) entrichtet wird, kommt es für die Steuerentstehung bei der Sollversteuerung nicht an.

Aus Art. 64 MwStSystRL (Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 77/388/EWG) ergibt sich für das Streitjahr nichts anderes. Danach gelten Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die zu aufeinander folgenden Abrechnungen oder Zahlungen Anlass geben, als mit Ablauf des Zeitraums bewirkt, auf den sich diese Abrechnungen oder Zahlungen beziehen.

Zwar hat der BFH im Anschluss an das EuGH-Urteil baumgarten sports & more vom 29.11.2018 C-548/17 entschieden, dass hierfür keine zeitraumbezogene Leistungshandlung erforderlich ist und auch Vermittlungsleistungen, die sich nach der Leistungshandlung auf die Vermittlung des Eintritts eines bestimmten Ereignisses beschränken, unter diese Regelung fallen, wenn die Vermittlungsleistung nach der Dauerhaftigkeit des vermittelten Erfolges vergütet wird (BFH-Urteil vom 26.06.2019 – V R 8/19 (V R 51/16)). Ob diese Voraussetzungen vorliegend erfüllt sein könnten, brauchte der BFH jedoch nicht zu entscheiden, weil § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 3 UStG nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden kann.

Hinweis | Die Anwendung von Art. 64 MwStSystRL (Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 77/388/EWG) setzt demgegenüber voraus, dass der Steuerpflichtige sich auf diese Vorschrift beruft.

Quintessenz | Das Besprechungsurteil zeigt das Unbehagen des BFH hinsichtlich der mit der Sollversteuerung verbundenen Vorfinanzierung durch den Steuerpflichtigen, wenn Leistungszeitpunkt und Entgeltzahlung auseinander fallen. Dass eine Klagerücknahme eine steuerpflichtige Leistung sein kann, wenn sie im Rahmen einer vertraglichen Vereinbarung gegen ein Entgelt erfolgt, ist ebenso wenig überraschend wie die Erkenntnis, dass in einem solchen Fall der für die Besteuerung maßgebliche Zeitpunkt der Zeitpunkt der Rücknahmeerklärung ist.

Interessant ist aber die Bezugnahme auf das EuGH-Urteil C-548/17 baumgarten sports & more vom 29.11.2018. Der BFH hatte in der diesem Urteil zugrunde liegenden Vorlage angefragt, ob für die Besteuerung erforderlich ist, dass der für die Leistung zu vereinnahmende Betrag fällig ist oder zumindest unbedingt geschuldet wird. In seiner Antwort im Urteil baumgarten sports & more hält der EuGH grundsätzlich am in Art. 63 MwStSystRL angelegten Prinzip der Besteuerung im Zeitpunkt der Leistungserbringung fest, weist aber darauf hin, dass Dienstleistungen, die sie zu aufeinanderfolgenden Zahlungen Anlass geben, nach Art. 64 Abs. 1 MwStSystRL als mit Ablauf des Zeitraums, auf den sich diese Zahlungen beziehen, erbracht gelten.

Der BFH hat im Folge-Urteil vom 26.06.2019 V R 8/19 (V R 51/16) bereits entschieden, dass hierfür keine zeitraumbezogene Leistungshandlung erforderlich ist, wenn eine Vermittlungsleistung nach der Dauerhaftigkeit des vermittelten Erfolges vergütet wird. Ob das vorliegend der Fall ist, konnte der BFH nicht entscheiden, weil § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 3 UStG nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden kann und sich der Kläger nicht auf Art. 64 MwStSystRL bzw. dessen im Streitjahr 2006 noch geltende wortgleiche Vorgängervorschrift in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der 6. EG-Richtlinie berufen hatte.

Beachte | Die Bezugnahme auf das EuGH-Urteil baumgarten sports & more legt aber die Vermutung nahe, dass der BFH auch in anderen Fällen eine Vergütung nach der Dauerhaftigkeit des Leistungserfolges zumindest in Erwägung zieht. Man darf deshalb gespannt sein, wie weit der BFH bei der Annahme von Leistungen, die i.S. von Art. 64 MwStSystRL zu aufeinanderfolgenden Zahlungen Anlass geben, gehen wird, um die von ihm als unangemessenen empfundenen Folgen der Sollbesteuerung zu vermeiden.