Europäisches Einheitspatent: ein multilateraler, ein halbes Jahrhundert andauernder Gesetzgebungsprozess
Am 9. Juli 2021 gab die Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts die Entscheidung 2 BvR 2216/20 bekannt. Mit dieser Entscheidung wurde eine weitere Hürde für das Europäische Patent mit einheitlicher Wirkung genommen. Das Europäische Patentamt geht davon aus, dass der multilaterale, bereits ein halbes Jahrhundert andauernde Gesetzgebungsprozess des Europäischen Patents mit einheitlicher Wirkung in Bälde abgeschlossen sein wird.
Das Europäische Patent mit einheitlicher Wirkung wird nachfolgend „Einheitspatent“ genannt und ist nicht mit dem klassischen Europäischen Patent zu verwechseln. Letzteres zerfällt nach der Erteilung in ein Bündel nationaler Patente, weswegen es im Folgenden als „Bündelpatent“ bezeichnet wird.
Derzeitiges Patentsystem Europas
Die erhebliche Bedeutung des Einheitspatents lässt sich nur mit Blick auf das derzeit bestehende Patentsystem Europas erfassen. Vereinfacht ausgedrückt umfasst das Patentsystem Europas derzeit nationale Patente sowie die Bündelpatente, welche jeweils einer eigenen Jurisdiktion unterworfen sind und jeweils von einer zuständigen Behörde verwaltet werden. Während beispielsweise französische Patente vom Institut National de la Propriété Industrielle (INPI) verwaltet werden, ist das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA) für die Verwaltung der deutschen Patente zuständig.
Nichtigkeitsverfahren zur Prüfung eines deutschen Patents u.a. auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit werden erstinstanzlich vor dem Bundespatentgericht verhandelt. In der zweiten und letzten Instanz entscheidet der Bundesgerichtshof über Nichtigkeit bzw. Rechtsbeständigkeit des Patents. Für Verletzungsverfahren betreffend die Verletzung eines deutschen Patents durch Produkte/Dienstleistungen eines Dritten in Deutschland – zumeist eines Wettbewerbers – hingegen sind spezialisierte Landgerichte erstinstanzlich zuständig. Die zweite und dritte Instanz bilden Oberlandesgerichte bzw. wiederum der Bundesgerichtshof.
Demgegenüber werden Bündelpatente vom Europäischen Patentamt (EPA) verwaltet. Rechtsgrundlage hierfür ist das multilaterale Europäische Patentübereinkommen (EPÜ) von 1977, welches mittlerweile 38 Vertragsstaaten umfasst. Hierunter fallen neben allen EU-Mitgliedsstaaten noch elf weitere Staaten, darunter das Vereinigte Königreich, die Schweiz, Norwegen und die Türkei. Während das Anmeldungsverfahren bis einschließlich zur Patenterteilung zentral vor dem EPA durchgeführt wird, zerfällt das Bündelpatent nach der Erteilung – von den zentral vor dem EPA verhandelten Einspruchsverfahren einmal abgesehen – in ein individuelles Bündel nationaler Teile. Für den deutschen Teil sind die beiden oben genannten Instanzenzüge zuständig.
Nachteile des derzeitigen Patentsystems
Der Patentinhaber muss sich nach der Erteilung seines Bündelpatents entscheiden, in welchen Vertragsstaaten das Bündelpatent in Kraft treten soll. Hierfür muss er in Abhängigkeit von unterschiedlichsten nationalen Regelungen verschiedene formelle Erfordernisse erfüllen, was im Folgenden mit dem Begriff „Validierung“ zusammengefasst wird. Dazu gehören zumeist die Entrichtung von nationalen Amtsgebühren, häufig die Übersetzung des Patents in die jeweilige Amtssprache und die Bestellung eines zuständigen Vertreters vor Ort. Validierungskosten sind daher reine Verwaltungskosten, ohne dass hierbei das Bündelpatent in irgendeiner Form inhaltlich bearbeitet wird. Die einmaligen Validierungskosten betragen je nach Land zwischen einigen hundert und wenigen tausend Euro.
In aller Regel rechnet sich das verhältnismäßig teure Bündelpatent bereits dann im Vergleich zu einer entsprechenden Vielzahl an national angemeldeten Patenten, wenn drei oder mehr Länder validiert werden. Nichtdestotrotz fallen gerade bei umfangreicher validierten Bündelpatenten Validierungskosten an, die häufig in der Größenordnung der gesamten Patentierungskosten bis zur Erteilung liegen. So produziert die territoriale Kleinteiligkeit des Bündelpatents Verwaltungskosten, die je nach Zahl der validierten Länder häufig 30% bis 70% des gesamten Budgets (Amtsgebühren sowie Anwaltskosten) eines Europäischen Patents bis zu seiner Erteilung ausmachen.
Auch der zweite große Nachteil des Bündelpatents geht auf seine territoriale Kleinteiligkeit zurück. Möchte ein Patentinhaber eines Bündelpatents beispielsweise in drei validierten Ländern eine Patentverletzung eines Wettbewerbers unterbinden, so muss er u.U. drei Verletzungsverfahren anstrengen. In jedem dieser Verfahren müssen Anwälte mandatiert werden, die die jeweilige nationale Zulassung innehaben. Analog gilt dies auch für Nichtigkeitsverfahren. Deshalb können die gerichtlichen Streitverfahren bei Bündelpatenten sehr aufwendig werden und erhebliche Prozesskostenrisiken mit sich bringen.
Das Einheitspatent
Ein erster Versuch fand schon zu Beginn der 70-er Jahre des vergangen Jahrhunderts statt, wobei 1975 ein entsprechendes Übereinkommen von allen neun damaligen EG-Staaten unterzeichnet wurde. Dieses Vorhaben zielte darauf ab, die nationalen Patente abzuschaffen und durch ein gemeinsames EG-Patent („Gemeinschaftspatent“) zu ersetzen, wodurch das europäische Patentsystem radikal verändert worden wäre. Es scheiterte schließlich daran, dass in zwei Staaten die jeweilige Ratifizierung nicht erreicht wurde. Ein weiterer Anlauf wurde 1989 genommen, welcher erneut an der Ratifizierung scheiterte – nur sieben von zwölf Unterzeichnerstaaten ratifizierten damals das Übereinkommen.
Im Jahr 2000 wurde das Vorhaben des Einheitspatents erneut angegangen und erstmals das Einheitspatent als Option zu den nationalen Patenten vorgesehen. Unter anderem aufgrund von Sprachenregelungen zogen sich die Verhandlungen hin, bis 2011 von dem Prinzip des Gemeinschaftspatentes (EU-weites Territorium) abgesehen und das Vorhaben im Rahmen des Mechanismus der verstärkten Zusammenarbeit weiter verfolgt wurde. Seit 2013 bilden zwei Verordnungen der EU die Rechtsgrundlage für das Einheitspatent nebst Einheitlichem Patentgericht. Insgesamt 25 Staaten haben den offiziellen EU-Vorschlag der verstärkten Zusammenarbeit unterzeichnet.
Die erste Bedingung für das Inkrafttreten des Einheitspatents ist die Ratifizierung des Einheitspatent-Übereinkommens in wenigstens 13 Unterzeichnerstaaten. Zwischen 2013 und 2018 haben insgesamt 15 Unterzeichnerstaaten die Ratifizierung vorgenommen. Hierunter müssen allerdings gemäß einer zweiten Bedingung des Übereinkommens auch die drei nach wie vor teilnahmewilligen Unterzeichnerstaaten sein, die im Jahr 2012 die meisten, in Kraft befindlichen Teile von Bündelpatenten aufwiesen. Dies sind Deutschland, Frankreich und Italien. Frankreich und Italien haben in 2014 bzw. 2017 die Ratifizierung durchgeführt, so dass nicht weniger als 15 europäische Staaten nur noch auf die Ratifizierung Deutschlands gewartet haben, damit das Einheitspatent in Kraft treten kann. Es ist davon auszugehen, dass weitere EU-Staaten nach und nach dem Einheitspatent-Übereinkommen beitreten werden.
Das Einheitspatent wird nicht nur eine kumulative Option zu den nationalen Patenten, sondern auch zu den Bündelpatenten sein. So wird der Anmelder eines Europäischen Patents nach der Erteilung weiterhin die Möglichkeit haben, per Bündelmechanismus Validierungen in einzelnen, ausgewählten Ländern vorzunehmen. Er wird sich aber auch für das Einheitspatent ohne jegliche Validierung entscheiden können, das in den Ländern in Kraft tritt, die das Übereinkommen zum Einheitspatent ratifiziert haben. Schließlich wird der Patentinhaber zusätzlich zum Einheitspatent Validierungen in weiteren Ländern nach dem klassischen Bündelprinzip vornehmen können. Dies ist schon deswegen zweckmäßig, weil auf absehbare Zeit nur ein Bruchteil der EPÜ-Vertragsstaaten am Übereinkommen des Einheitspatents teilnehmen wird.
Beachte | Die Option des Einheitspatents wird dazu führen, dass den Patentinhabern europäischer Patente bei gleichem Budget im Durchschnitt deutlich größere geschützte Märkte zur Verfügung stehen werden. Damit werden europäische Patentinhaber hinsichtlich des Verhältnisses aus Patentierungskosten relativ zur Marktgröße deutlich gegenüber den Inhabern US-amerikanischer und chinesischer Patente aufholen.
Ratifizierungsvorhaben Deutschlands
Der Bundestag hat das Zustimmungsgesetz zum Übereinkommen des Einheitspatents im März 2017 zwar einstimmig angenommen. Allerdings waren lediglich 35 Abgeordnete anwesend, so dass in der Folge eine Verfassungsbeschwerde u.a. aufgrund fehlender Mehrheitserfordernisse gegen das Zustimmungsgesetz noch im März 2017 erhoben wurde. Daraufhin bat das Bundesverfassungsgericht im Juni 2017 den Bundespräsidenten Steinmeier, das Zustimmungsgesetz für die Dauer des Beschwerdeverfahrens nicht zu unterzeichnen. Im Februar 2020 entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts abschließend, dass der Beschluss des Bundestages vom März 2017 jedenfalls aufgrund der fehlenden Mehrheitserfordernisse nichtig ist.
Das Bundesjustizministerium ließ das Zustimmungsgesetz unverändert erneut in den Gesetzgebungsprozess des Bundestags einfließen. Im November 2020 nahm der Bundestag mit einer Zweidrittelmehrheit – bei ausreichender Anwesenheit – das Zustimmungsgesetz erneut an, woraufhin zwei weitere Verfassungsbeschwerden erhoben wurden. Die beiden Verfassungsbeschwerden umfassen jeweils einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der dem Bundespräsidenten die Ausfertigung des Zustimmungsgesetzes untersagt werden soll. Laut Gerichtssprecher vom 13. Januar 2021 hat das Bundesverfassungsgericht den Bundespräsidenten mit Blick auf die beiden Verfassungsbeschwerden erneut gebeten, das Zustimmungsgesetz vorerst nicht zu unterzeichnen. Der Bundespräsident ließ am gleichen Tage verlauten, dass er dieser Bitte nachkommen werde.
Hinweis | Laut eigener Pressemitteilung vom 9. Juli 2021 hat das Bundesverfassungsgericht am 23. Juni 2021 entschieden, dass beide Eilanträge aufgrund mangelnder Substantiierung unzulässig sind. Die Begründung ist überraschenderweise so eindeutig, dass sich die Verfassungsbeschwerden vermutlich auch in der jeweiligen Hauptsache erledigt haben.
Ausblick | Die Ausfertigung des deutschen Zustimmungsgesetzes durch den Bundespräsidenten und damit der Abschluss des deutschen Ratifizierungsvorhabens ist wohl in Bälde zu erwarten. Weiterhin bedarf es ausweislich des Vorbereitungskommitees des Einheitspatents noch der Hinterlegung des „Protocol on Provisional Application“ im Falle von zwei Staaten, so dass der gesetzlich strukturierte Automatismus der Einführung des Einheitspatents beginnen kann. Im Übrigen ist aufgrund des Brexit noch zu klären, in welchem Unterzeichnerstaat die eigentlich für London vorgesehene Abteilung des Einheitspatentgerichts anzusiedeln ist.
Jedenfalls das Europäische Patentamt nimmt an, dass das Einheitspatentsystem in 2022 in Kraft treten wird. Dann träte zu den Optionen des nationalen Patents und des Bündelpatents noch das Einheitspatent hinzu.