Global Mergers & Transactions Wirtschaftsvölkerrecht
Christoph Herrmann

Aktuelle Reform des EU-Antidumpingrechts

Die EU reformiert aktuell ihr Antidumpingrecht. Damit soll nach kontroversen Debatten um die künftige Behandlung Chinas vor allem der drohenden WTO-Rechtswidrigkeit des derzeitigen EU-Rechtsrahmens entgegengewirkt werden. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die bevorstehenden Änderungen und geht der Frage nach, ob die EU ihr angestrebtes Ziel damit tatsächlich erreicht.

Am 4.12.2017 stimmte der Rat der Europäischen Union einem Kompromiss mit dem Europäischen Parlament zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/1036 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Union gehörenden Ländern (Antidumping-Grundverordnung, AD-GVO) zu. Nachdem auf diesem Gebiet lange Zeit legislatorischer Stillstand herrschte, wird der Vorschlag der EU-Kommission nun nach nur gut einem Jahr in europäisches Recht gegossen und wird zeitnah in Kraft treten.

Konkret betrifft die Änderung die Bestimmung des sogenannten Normalwerts. Dieser stellt eine wichtige Komponente der Dumpingzollberechnung dar: die Differenz zwischen Exportpreis und Normalwert bestimmt die Dumpingspanne, nach der sich die maximale Höhe des Antidumpingzolls bemisst.

Bisherige EU-Rechtslage: die Krux des Marktwirtschaftsstatus

Das EU-Antidumpingrecht unterschied bei der Normalwertbestimmung bislang strikt zwischen Marktwirtschafts- und Nichtmarktwirtschaftsländern. Während bei Marktwirtschaftsländern dafür normalerweise auf existierende Marktpreise im Ursprungsland oder rechnerisch ermittelte Herstellungskosten zurückgegriffen wurde (Art. 2 Abs. 1-6 AD-GVO), wurden bei Nichtmarktwirtschaftsländern meist die Preise oder Kosten in einem vergleichbaren marktwirtschaftlichen Drittland herangezogen (Art. 2 Abs. 7 lit. a AD-GVO). Dadurch wird die Dumpingspanne künstlich erhöht, was signifikant höhere Zölle zur Folge hat, als wenn die existierenden Preise und Kosten in dem untersuchten Land in die Berechnung eingestellt worden wären.

Die Frage des Marktwirtschaftsstatus des Ursprungslands bestimmte daher entscheidend das dumpingrechtliche Schicksal der Exporteure.

China als Stein des Anstoßes

Von der Nichtmarktwirtschaftsmethode profitierte die EU insbesondere bei Verfahren gegen die Volksrepublik China. Trotz mehrfacher Anläufe war es dem Reich der Mitte bis heute nicht gelungen, die Zuerkennung eines länderweiten Marktwirtschaftsstatus für EU-Antidumpingverfahren zu erreichen.

Hinweis | Die Zuerkennung des Marktwirtschaftsstatus ist nicht WTO-rechtlich vereinheitlicht, sondern liegt im Ermessen der für den Handelsschutz zuständigen nationalen Behörden.

Anträge auf marktwirtschaftliche Behandlung einzelner Exporteure (Art. 2 Abs. 7 lit. b AD-GVO) waren nur selten erfolgreich. Vergleichsweise hohe Antidumpingzölle gegen chinesische Unternehmen waren damit an der Tagesordnung.

Der Ablauf von WTO-Sonderrecht für China für die Normalwertberechnung zwang die EU aber nun zum Handeln. Das Beitrittsprotokoll Chinas zur WTO bestimmt, dass ab Dezember 2016, 15 Jahre nach dem Beitritt Chinas zur WTO, keine Vermutung für das Vorliegen nichtmarktwirtschaftlicher Bedingungen in China mehr bestehen sollte. Auch wenn in den letzten Jahren Zweifel an dieser Rechtsfolge geäußert wurden, so wird mehrheitlich vertreten, dass der Ball für den Nachweis nichtmarktwirtschaftlicher Bedingungen und somit für den Rückgriff auf alternative Normalwerte WTO-rechtlich nunmehr auf Seiten der Ermittlungsbehörden liegt. Um die Anwendung (zu niedriger, da angeblich manipulierter) chinesischer Marktpreise abwenden und die Interessen der EU-Industrien angemessen schützen zu können, schlug die Kommission die Einführung einer neuen Methodologie für die Normalwertberechnung vor, welche Parlament und Rat mit Änderungen nun gebilligt haben.

Die neue Methodologie für WTO-Mitglieder

Anstelle der Anknüpfung an den Nichtmarktwirtschaftsstatus des Ursprungslandes sieht die Neuregelung vor, dass in Verfahren gegen WTO-Mitglieder immer dann auf alternative Berechnungsmethoden zur Normalwertbestimmung zurückgegriffen werden darf, wenn „in diesem Land nennenswerte Verzerrungen […] bestehen“ (neuer Art. 2 Abs. 6a AD-GVO). Der Normalwert wird dann „ausschließlich anhand von Herstellungs- und Verkaufskosten, die unverzerrte Preise oder Vergleichswerte widerspiegeln, rechnerisch ermittelt“.

Die EU-Kommission unterscheidet in Bezug auf WTO-Mitglieder bei der Normalwertbestimmung also zukünftig nicht mehr zwischen Marktwirtschafts- und Nichtmarktwirtschaftsländern, sondern prüft statusunabhängig, ob nennenswerte Verzerrungen eine Abweichung von existierenden Preisen und Kosten des Ursprungslandes gebieten.

Nennenswerte Verzerrungen sind dabei „Verzerrungen, die eintreten, wenn sich die gemeldeten Preise oder Kosten, einschließlich der Rohstoff- und Energiekosten, nicht aus dem freien Spiel der Marktkräfte ergeben, weil sie von erheblichen staatlichen Eingriffen beeinflusst sind.“ Bei der Beurteilung dieser Frage ist die EU-Kommission gehalten, verschiedene gelistete Faktoren zu berücksichtigen, unter anderem die Existenz von Staatshandelsunternehmen oder sonstigem staatlichen Einfluss auf Unternehmen, staatliche Maßnahmen, die geeignet sind, das freie Spiel der Marktkräfte zu beeinflussen oder auch verzerrte Lohnkosten.

Als verfahrenstechnisches Novum wurde zudem beschlossen, dass die Kommission einen öffentlich zugänglichen Bericht über die wirtschaftliche Situation von Ländern oder Branchen veröffentlicht, der von den EU-Industrien bei der Anstrengung eines Antidumpingverfahrens als Beweis für das Vorliegen nennenswerter Verzerrungen zugrunde gelegt werden darf.

Hinweis | Herrin des Antidumpingverfahrens ist zwar die EU-Kommission, die an sich auch von Amts wegen Untersuchungen anstrengen darf. Viel häufiger werden diese jedoch durch eine entsprechende Beschwerde der EU-Industrien initiiert.

WTO-Rechtmäßigkeit der EU-Reform fraglich

Die EU-Kommission hat sich mit ihrem Reformvorschlag berühmt, durch die Einführung gleicher Regeln für alle WTO-Mitglieder ein WTO-rechtlich wasserdichtes Antidumpingkonzept geschaffen zu haben. Ob die neue Methodologie aber tatsächlich mit dem WTO-Recht in Einklang steht, ist fraglich.

Hinweis | Die EU sowie alle EU-Mitgliedstaaten sind als Mitglieder der WTO zur Befolgung der in den WTO-Abkommen aufgestellten Regeln verpflichtet. Bei Verstößen drohen Klagen anderer Mitglieder vor dem WTO-Streitbeilegungsorgan.

Das WTO-Antidumpingrecht gestattet den Rückgriff auf alternative Normalwerte nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen. Vorliegend käme eine Zulässigkeit nach Art. 2.2 WTO-Antidumpingübereinkommen in Betracht. Danach kann eine „besondere Marktsituation“ (particular market situation) die Abweichung von existierenden Inlandspreisen des Ursprungslandes erfordern. Sie liegt im Wesentlichen vor, wenn die Preise auf dem Inlandsmarkt des Ursprungslandes nicht mehr durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden und dies zu Marktverzerrungen führt.

Bei der Ermittlung, ob nennenswerte Verzerrungen vorliegen, wird die EU-Kommission aber auch Kriterien berücksichtigen, die dieser rein marktwirtschaftlich geprägten Konzeption einer besonderen Marktsituation fremd sind. So werden bei der Auswahl eines geeigneten Drittstaates für die Vergleichswertbestimmung „gegebenenfalls Länder bevorzugt, in denen ein angemessener Sozial- und Umweltschutz besteht“ (Art. 2 Abs. 6a AD-GVO). Dies könnte eine ermessensfehlerhafte Auswahl seitens der EU-Kommission darstellen und möglicherweise die WTO-Rechtswidrigkeit des verhängten Antidumpingzolls begründen.

Zudem erfolgt nach der neuen Methodologie die Preiskonstruktion zur Gewinnung alternativer Normalwerte unter Ausschluss der Marktsituation des Ursprungslands, d.h. dass auf unverzerrte Preise auf dem Weltmarkt oder in anderen Drittländern zurückgegriffen wird. Dieser Vorgehensweise ist der Appellate Body in seiner gegen die EU erlassenen EU – Biodiesel – Entscheidung allerdings in einer ähnlichen Konstellation schon einmal entgegengetreten.

Hinweis | Der Appellate Body ist das höchste Rechtsprechungsorgan der WTO. Seine Entscheidungen sind für die Parteien des Verfahrens bindend.

Zwar dürfen laut Appellate Body existierende Preise und Kosten des Ursprungslandes unter Umständen mithilfe unverzerrter internationaler Parameter angepasst werden. Ausgangspunkt für die Normalwertberechnung ist und bleibt jedoch die Marktsituation im Ursprungsland. Vor dem Hintergrund dieser juristischen Niederlage geht die EU mit ihrem Reformvorhaben bewusst ein Risiko ein.

Ausblick | Der Praxistest des neuen EU-Antidumpingrechts steht zwar noch aus. Angesichts der bereits hohen Arbeitsbelastung der Kommissionsbeamten erscheint zweifelhaft, ob die Kommission ihren neuen Berichtspflichten und erhöhten Beweisführungslasten zuverlässig nachkommen wird, ohne dass die – ohnehin kurze – gesetzlich festgeschriebene Verfahrenshöchstdauer überschritten wird. Auch auf die Reaktion Chinas darf man gespannt sein. Nachdem andere große Volkswirtschaften der Volksrepublik bereits vor Jahren Marktwirtschaftsstatus zuerkannt haben, wird die legislatorische Vermeidungstaktik der EU in Beijing auf wenig Gegenliebe stoßen. Wegen angeblich WTO-rechtswidriger Dumpingberechnungspraktiken hat China kürzlich WTO-Streitschlichtungsverfahren gegen die USA und die EU angestrengt. Es wäre daher gerade in Anbetracht der aufgezeigten WTO-rechtlichen Defizite wenig überraschend, wenn bald auch die neue Methodologie der EU das WTO-Streitbeilegungsorgan beschäftigen wird.

Sophia Müller ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Passau.