European Tax Jurisdiction Europäischer Gerichtshof

Vorrang des Unionsrechts im Konkreten – Gerichte und die sog. unionsrechtskonforme Auslegung

Im Bereich der direkten Steuern ist die Vorlage der Finanzgerichte nicht immer zwingend. Eine Vorlagepflicht, die nur den BFH als letztinstanzliches Steuergericht trifft, besteht nicht, wenn es sich um ausschließlich (genuin) steuerrechtliche Regelungen wie etwa § 6 EStG handelt. Insoweit ist trotz der Bilanzrichtlinie nicht vorzulegen. Das Steuerbilanzrecht bleibt ein unionsrechtlich nicht harmonisiertes Rechtsgebiet.

Anders sieht dies aus, wenn Grundfreiheiten betroffen sind, etwa die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Art. 45 AEUV. In diesem Fall kann ein Finanzgericht, muss der BFH vorlegen, …

… es sei denn die zutreffende Auslegung des Unionsrechts ist schon geklärt oder die Rechtsfrage ist eindeutig (acte clair-Doktrin).

Fraglich erscheint der Fall, dass der Gesetzgeber eine solche eindeutige Rechtslage nicht richtig umgesetzt hat. In diesem Fall kann das Gericht im Rahmen der sog. unionsrechtskonformen Auslegung ohne Vorlage schnell und rechtsschutzgewährend tätig werden.

Der Sonderausgabenabzug bei „Wanderarbeitern“ als Beispiel einer sachgerechten unionskonformen Auslegung

1. Fehlerhafte Umsetzung durch den Gesetzgeber

Ausgehend von der sog. Schuhmacker-Rechtsprechung (EuGH-Urteil Schuhmacker vom 14.02.1995 – C-279/93, EU:C:1995:31, Rz32, Slg. 1995, I-225) steht fest, dass der ausländische Beschäftigungsstaat dem Steuerpflichtigen sämtliche an seine persönliche und familiäre Situation geknüpften, steuerlichen Vergünstigungen zu gewähren hat, wenn er sein gesamtes oder fast sein gesamtes zu versteuerndes Einkommen dort erzielt und in seinem Wohnsitzstaat keine nennenswerten Einkünfte bezieht, so dass Letzterer nicht in der Lage ist, ihm diejenigen Vergünstigungen zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner persönlichen und familiären Situation ergeben. Allerdings ist seit der Entscheidung Bechtel (EuGH-Urteil Bechtel vom 22.06.2017, EU:C:2017:488, BStBl II 2017, 1271) klar, dass Vorsorgeaufwendungen steuerlich im Wohnsitzstaat zu berücksichtigen sind, wenn dies im ausländischen Beschäftigungsstaat nicht geschieht.

Folglich muss das Verbot des Abzugs von Sonderausgaben bei steuerfreien Einnahmen nach § 10 Abs. 2 EStG Rückausnahmen vorsehen. Diese hat der Gesetzgeber im Nachgang zu der Bechtel-Entscheidung getroffen. Allerdings betrafen sie (zunächst) nur steuerfreie Einkünfte aus der EU bzw. dem EWR. Nicht vorgesehen war eine Rückausnahme für Einkünfte aus der Schweiz. Auch beschränken sich die Rückausnahmen allein auf Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG) und auch nur soweit im Beschäftigungsstaat „keinerlei“ steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen (jedenfalls Beiträge zur Rentenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung) vorgesehen sind.

Für den BFH stellte sich damit die Frage, ob in einem Fall eines Arbeitnehmers mit nichtselbständigen Einkünften aus der Schweiz eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 10 Abs. 2 EStG möglich oder eine erneute Vorlage nötig sei.

2. Pflicht des nationalen Gerichts zur unionsrechtskonformen Auslegung

Die unionsrechtskonforme Auslegung verlangt von den Gerichten unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung der Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Gemeinschaftsrecht verfolgten Ziel übereinstimmt (vgl. nur BFH-Urteil vom 09.05.2012 – I R 73/10, BStBl II 2013, 566, Rz 19, m.w.N.)

Im BFH-Urteil vom 05.11.2019 – X R 23/17 (BStBl II 2020, 763) hat der X. Senat im Rahmen der sog. unionsrechtskonformen Auslegung gehandelt und einem in der Schweiz beschäftigten Arbeitnehmer mit Wohnsitz in Deutschland die Möglichkeit zum Abzug von Vorsorgeaufwendungen als Sonderausgaben eingeräumt. Zwar ging es auch in diesem Fall um den Vorrang des Unionsrechts. Der Wortlaut des nationalen Gesetzes (EStG) ermöglicht eine Auslegung nicht. Auch die Gesetzesmaterialien zeigen nicht auf, ob die Problematik des Abzugs von Vorsorgeaufwendungen eines Arbeitnehmers im Verhältnis zur Schweiz bedacht worden ist. Somit steht aber auch fest, dass es nicht dem Willen des Gesetzgebers widerspräche, wenn das Gericht über den Wortlaut der Norm hinaus die Grundsätze der EuGH-Rechtsprechung aus dem Bechtel-Urteil anwendet und im Rahmen einer unionsrechtskonformen Auslegung § 10 Abs. 2 EStG um die Rückausnahme bei steuerfreien Einkünften aus der Schweiz ergänzt. Mangels erkennbarem anderen Willen des Gesetzgebers ist dies kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung.

3. Reaktion des Gesetzgebers

Mittlerweile hat der Gesetzgeber in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG auch den Abzug von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 1 Nrn. 2, 3 und 3a EStG) im unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen von in der Schweizerischen Eidgenossenschaft erzielten Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit zugelassen.