Steuern und Digitalisierung – Technische Wege zu größerer Rechts- und Planungssicherheit („Tax Certainty“) im Steuer- und Steuerinformationsrecht
Auf dem diesjährigen virtuellen European Tax & Legal Forum war eine Vortrags- und Diskussionsrunde weitsichtig den digitalen Innovationen im Steuerrecht gewidmet. Der Titel des einschlägigen Panels lautete halb englisch, halb deutsch „Tax + Digitalisierung“. Der englische Begriff „Tax“ war dabei feinsinnig gewählt, weil er sowohl den Gegenstand als auch die Funktion von Tax im Unternehmen beschreibt. Für den prozess- und technikbezogene war hingegen tatsächlich der deutsche Begriff treffender, um ein Spektrum zu kennzeichnen. Lesen konnte man die Widmung des Panels danach aus zwei Richtungen: „Steuern der Digitalisierung“, mit Blick auf die Besteuerung neuer digitaler Geschäftsmodelle, oder „Digitalisierung der Steuern“, mit der prozess- und technikbezogenen Perspektive des Besteuerungsverfahrens. Damit waren zwei gänzlich unterschiedliche und doch verbundene Dimensionen eines Themas erfasst.
Modelle der Besteuerung der Digitalen Wirtschaft: Gefahren für die Rechts- und Planungssicherheit
Die Betrachtung von „Steuern der Digitalisierung“ führt in die brennenden Fragen der „optimalen“ internationalen Besteuerung der Digitalen Wirtschaft. Sie handeln von der Verteilung des Besteuerungssubstrats und damit von der territorialen Allokation der Steuerbemessungsgrundlage bei neuen Geschäftsmodellen, die keine feste Geschäftseinrichtung am Marktort erfordern und in denen materielle Güter gegenüber immateriellen Werten an Bedeutung verlieren, von der Erhaltung des Status quo der Steuerverteilung in einer sich wandelnden Wirtschaft und auch von staatlicher Lenkung und nationalen Interessen in einer globalen Wirtschaft. Steuern steuern die Digitalisierung der Wirtschaft, stärken oder schwächen den internationalen Wettbewerb und Innovationsanreize, ebenso wie die Innovationskraft – gewollt und leider oft auch ungewollt. Die Komplexität des Projekts einer Neuordnung der Besteuerung der digitalen Wirtschaft ist im neunten Jahr der BEPS-Initiative mittlerweile hinreichend deutlich geworden. In den Handlungsvorschlägen der OECD, die sich erst in diesem Jahr im Zwei-Säulenmodell und den zugehörigen Blaupausen konkretisiert haben, offenbart sich der Preis für den notwendigen breiten internationalen Konsens. Die Komplexität des Besteuerung grenzüberschreitender unternehmerischer Betätigung wird enorm zunehmen. Die Gefahr ist groß, dass dies mit einem erheblichen Verlust an Rechts- und Planungssicherheit einhergeht. Ihr ist zu begegnen.
Tax Certainty durch Digitalisierung im Steuerrecht
Die zweite Dimension des Themas in der „Digitalisierung der Steuern“ ist in Wissenschaft und Praxis mittlerweile mindestens ebenso präsent wie die erste. Die Breite seiner Vielfalt wird indessen seltener erkannt. Mit „Digitalisierung der Steuern“, umschrieben im Schlagwort „Tax Tech“, verbinden sich abhängig von Profession und Perspektive ganz unterschiedliche Vorstellungen. Während Tax Tech von den einen mit computergestützter Steuerdeklaration verbunden wird, stellen sich andere darunter Datenanalyse zur Stärkung des Tax-CMS und wieder andere automatisierte Besteuerungsverfahren vor. Künstliche Intelligenz wird im Steuerrecht schließlich oft schlicht mit sprechenden Expertensystemen gleichgesetzt. Die tatsächlichen Möglichkeiten reichen weiter und lassen sich mit den Fragen der Besteuerung der Digitalen Wirtschaft verbinden. Sie führen vom ersten zu einem der letzten Punkte des BEPS-Aktionsplans. Die G 20-Staaten und die OECD hatten sich im Projekt BEPS nicht nur vorgenommen, missbräuchlichen Steuergestaltungsstrategien einiger multinationaler Unternehmen zu begegnen und die Besteuerung der digitalen Wirtschaft neu zu ordnen. Eine wesentliche Maßnahme sollte ebenso die Stärkung der „Tax Certainty“, also der Rechts- und Planungssicherheit im Steuerrecht bilden. Tatsächlich könnte Digitalisierung erheblich zur Stärkung der Rechts- und Planungssicherheit im Steuerrecht beitragen, nicht nur weil das Digitale klare Kontraste fördert.
Perspektiven der Digitalisierung des Steuerrechts
Wie wäre es, wenn Steuergesetze, Verwaltungsanweisungen und vielleicht auch völkerrechtliche Verträge in Gestalt eines Programmcodes verhandelt, geschlossen, verabschiedet und veröffentlicht würden, der für die Bürger, wie für die Finanzbehörden, vorhersehbar und unmanipulierbar („immutable, unstoppable and irrefutable“) abläuft? Und was wäre, wenn Verständigungsverfahren und Streitbeilegung schnell und kostengünstig auf geeigneten Online Dispute Resolution-Plattformen in automatisierten Verhandlungsprozessen ablaufen könnten? Würden auch noch sämtliche Sachverhaltsinformationen strukturiert vorliegen, ließe sich dann nicht das gesamte Besteuerungsverfahren, die Deklaration, das Compliance Management und auch die Planung und Gestaltung mit bislang unerreichter Rechts- und Planungssicherheit automatisieren? Vielleicht lässt sich im Zeitalter von Big Data und Data Science sogar ganz auf Datenstrukturierung verzichten? Adieu, E-Bilanz? Was nach schriller Utopie klingt, hat schon Wurzeln im geltenden Lohnsteuerrecht und zeigt den Facettenreichtum der Digitalisierung des Rechts. Was bereits möglich ist, lässt sich kurz an einigen Beispielen verdeutlichen.
Digitalisierung des Besteuerungsverfahrens
Zu erinnern ist zuerst an die Bausteine der Digitalisierung des Besteuerungsverfahrens: Das Verfahrensrecht erlaubt eine ausschließlich automationsgestützte Steuerfestsetzung und deren digitale Bekanntgabe. Die in der Vorschrift des § 160 Abs. 4 Satz 1 AO zum Ausdruck kommende Digitalisierung der Verwaltungsverfahren war einer der verschiedenen Impulse die zur Wiederentdeckung der Rechtsinformatik in Deutschland geführt haben. Den Prozess der Sachverhaltsdigitalisierung hat die Finanzverwaltung – nicht unumstritten – auf die Steuerpflichtigen und private Dritte vorverlagert und dadurch die Digitalisierung auch in den Steuerabteilungen der Unternehmen vorangetrieben. Zu erklären ist schon lange digital, die Bilanz muss in ein binäres Raster passen und weitere Sachverhaltsinformationen müssen die Finanzbehörden digital erreichen. Das wird – verfassungsrechtlich angreifbar – dadurch abgesichert, dass analogen Informationen die Relevanz abgesprochen und im Steuerrecht zunehmend die formale, digitale, Wahrheit an die Stelle der materiellen Wahrheit tritt. Zur Verifikation werden ebenso bereits automatisierte Verfahren, Risikomanagementsysteme, eingesetzt. Sie beruhen auf – „geheimen“ – statistischen Verfahren. Droht ihre Offenlegung, darf dem Steuerpflichtigen sogar Auskunft über die Daten verwehrt werden, die das Finanzamt über ihn erhoben hat. Überhaupt bleibt vieles im Geheimen, selbst die eigene Akte darf der Steuerpflichtige in der Regel nicht einsehen. Um dieses Abwehrrecht der Finanzbehörden gegen die in der Datenschutzgrundverordnung und in der Europäischen Datenschutzkonvention angelegten Auskunftsansprüche abzusichern, betreibt der Gesetzgeber in den §§ 32a – 32j AO einen erheblichen Regelungsaufwand.
Digitalisierung der Steuerfunktion im Unternehmen
In der Steuerfunktion der Unternehmen verbindet sich Digitalisierung in den verbreiteten Programmen zur Steuerdeklaration und Steuerplanung mit neuen Erwartungen und Methoden in Tax Compliance-Managementsystemen. Noch wenig reflektiert ist der Umstand, dass mit den Möglichkeiten der Erkenntnis durch Datenanalysen auch die Sorgfaltspflichten wachsen können. Im Gesellschaftsrecht sind diese möglichen Rückwirkungen des Einsatzes von Data Science und Künstlicher Intelligenz auf die Business Judgement Rule und die Wissenszurechnung bereits erkannt. Rechtspolitisch ist auch im Steuerrecht vorsichtig abzuwägen und Sorge dafür zu tragen, dass Pflichten nicht mit den Möglichkeiten durch den Himmel wachsen und der unterlassene Einsatz von Tax Tech nicht automatisch zur steuerrechtlichen und strafrechtlichen Sanktion führt, sonst würde Digitalisierung eher weg als hin zu mehr Rechtssicherheit führen.
50 Jahre Steuerexpertensysteme: Warum sind wir noch nicht weiter?
Wo Digitalisierung des Steuerrechts in den verbreiteten Programmen zur Steuerdeklaration lange sichtbar ist, beruht sie auf der über 50 Jahre alten Technik regelorientierter Expertensysteme, selbst wenn sie heute zu uns sprechen kann. Der Grund für die geringen Fortschritte ist im Implementierungsaufwand zu finden. Das (Steuer-)Recht auf Rädern muss in Programmcode übersetzt werden. Das ist aufwendig und teuer sowohl für die Steuerpflichtigen, wie für die Finanzbehörden und deren jeweilige Dienstleister. Einen echten Durchbruch würde es bedeuten, wenn die Technik in der Lage wäre, Steuergesetze selbst zu verstehen oder analoge Steuergesetze maschinenlesbar würden. Dazu naheliegende elektronische, binäre Gesetze in Gestalt eines Programmcodes müssen in demokratisch strukturierten Steuerstaaten allerdings notwendig eine Utopie bleiben. Politische Kompromisse lassen sich nur im Spielraum sprachlicher Unschärfe erzielen. Bildet bereits die Verabschiedung eines Jahressteuergesetzes einen gewaltigen politischen Kraftakt, obwohl an vielen Stellen jedes Lager das gewünschte in den Text interpretieren kann, erscheint eine Einigung über Programmcode ausgeschlossen. Ein politischer Kompromiss wäre ohne die Gräben überwindende Hilfestellung sprachlicher Unschärfe im Steuerrecht kaum je erzielbar. Mögliche wäre aber, Gesetzestexte mit Metadaten anzureichern und so Computern ihr verstehen zu erleichtern. Dazu gibt es bereits vielversprechende Vorarbeiten. Und solche Metadaten könnten nicht nur das Besteuerungsverfahren für die Finanzbehörden erleichtern, sondern auch für die Rechts- und Planungssicherheit der Unternehmen einen Gewinn darstellen.
Tax Bots – und ihre Schwachpunkte
Die in BMF-Schreiben und Richtlinien reich und mit Fallbeispielen dokumentierte Verwaltungspraxis könnte einer weiteren Technik den Weg ebnen, nämlich dem maschinellen Lernen, das Muster in den von der Verwaltungspraxis abgebildeten Fallgruppen mit Mustern aus der Lebenswirklichkeit vergleicht. Maschinelles Lernen würde auch die Entwicklung echter TaxBots ermöglichen, also von Algorithmen, die nicht mühsam hinterlegte Textbausteine in Wenn-Dann-Schemata verarbeiten, sondern autonom das Verhalten und die Schriftsätze von Steuerexperten nachbilden können. Die Risiken dieser Technik dürfen nicht verschwiegen werden. Neuronal trainierte TaxBots wählen die mit der größten Wahrscheinlichkeit richtige Formulierung aus und können damit auch kolossal daneben liegen. Das wäre kein Gewinn für die Rechtssicherheit. Deshalb können sie nur in Kombination mit regelorientierten Systemen eingesetzt werden.
Einsatzfelder der Blockchain und anderer Distributed Ledger Technologien
Großes Potential verspricht die Blockchain-Technologie. Smart Contracts, die das geltende Recht („immutable, unstoppable and irrefutable“) durchsetzen, wären zweifellos auch ein Gewinn für die Tax Certainty. Leider wiegt das Potential dieser Technik offenbar so schwer, dass es bisher nicht recht gelungen ist, es für breite Anwendungen im Steuerrecht zu heben. In Gedankenspielen lassen sich durch Einsatz von Blockchain-Technologien und Smart Contracts allerdings nicht nur die Erhebung der indirekten Steuern, sondern auch sämtliche Abzugssteuern zur Entlastung der abzugsverpflichteten Arbeitgeber, Banken und Unternehmer automatisieren.
Zukunftsthema Steuerinformationsrecht
Das große Zukunftsthema der Digitalisierung der Steuern und der Steuern der Digitalisierung handelt vom Steuerinformationsrecht. Dabei geht es zuerst um die Informationsverteilung zwischen den Steuerpflichtigen und den nationalen Finanzbehörden und sodann um die Informationsverteilung zwischen Bund und Ländern und schließlich zwischen Staaten. Wenn die Finanzbehörden Big Data aus den von den Steuerpflichtigen gelieferten Daten generieren und nutzen, um ihre Risikomanagementsysteme zu schärfen, dürfen diese Daten den Steuerpflichtigen nicht vorenthalten werden, damit diese wiederum ebenfalls ihre Tax-CMS – zur Compliance, nicht zur Optimierung der Konzernsteuerquote – verbessern können. Ebenso wenig dürfen die Finanzbehörden den Steuerpflichtigen den Blick in die eigene Steuerakte verwehren. Gelingt eine überzeugend Informationsteilung, öffnet das den Weg in ein für beide Seiten kosteneffizientes horizontales Deklarations- und Verifikationssystem mit einem Zugewinn an Rechts- und Planungssicherheit.
Digitale Streitbeilegung
Im Zentrum des BEPS-Aktionspunkts zur Stärkung von Tax Certainty stehen Streitbeilegungsmechanismen. Sie bergen bislang kaum beachtetes Digitalisierungspotential. Gerade im Bereich der langwierigen Verständigungsverfahren könnten Online Dispute Resolution-Plattformen eine große Hilfestellung bieten. Ursprünglich für Verbraucherverträge entwickelt, werden diese Plattformen in einigen Staaten bereits zur Beilegung öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten und zunehmend auch in der Justiz und in Schiedsverfahren eingesetzt. Erleichtern können sie zum einen eine strukturierte Kommunikation und Verhandlungssituation. Zum anderen lassen sich die bereits auf OECD- und EU-Ebene verabschiedeten Regeln für Streitbeilegungsverfahren leicht mit den auf ODR-Plattformen etablierten Instrumenten für automatisierte Verhandlungen verknüpfen.
Digitale Ausbildung
Rechts- und Planungssicherheit hängt nicht zuletzt auch von der Ausbildung der rechtsanwendenden Menschen ab. Digitalisierung kann Tax Certainty nicht stärken, wenn Unsicherheit über die Technik besteht. Deshalb wird man nicht umhinkommen, auch in den juristisch geprägten Ausbildungsbereichen statistische Methoden zu unterrichten. Sie bilden die Grundlage für einen Großteil der neuen informationsgestützten Technologien. Diese Datenkompetenz ist überdies notwendig, um beurteilen zu können, wo die neuen Technologien die Gefahren von Fehlern bergen und wo sie deshalb nicht eingesetzt werden sollten.
Zusammengefasst | Digitalisierung des Steuerrechts birgt die große Chance einer Stärkung der Rechts- und Planungssicherheit im Steuerrecht (Tax Certainty) und damit ein notwendiges Gegengewicht zum Komplexitätswachstum im Steuerrecht der Digitalisierung. Der Weg zu ihrer Realisation führt durch eine Neuordnung des Steuerinformationsrechts, durch Open Data, durch digitale Regel- und Sachverhaltsinformation, digitale Streitbeilegungsplattformen und eine modernisierte Ausbildung, die auch Datenkompetenz vermittelt.