European Insolvency & Restructuring Ausländisches Insolvenzrecht
Christoph Thole

Geschäftsleiterpflichten in Insolvenznähe – Impulse aus England?

Geschäftsleiterpflichten im Stadium der Insolvenznähe und im Vorfeld eines Insolvenzverfahrens oder eines formellen Restrukturierungsverfahrens beschäftigen Theorie und Praxis schon seit langem. Besonders in Deutschland ist die Diskussion um die den Geschäftsleiter im Vorfeld der Insolvenz treffenden Pflichten erneut entfacht worden. Die ursprünglich für das seit 1.1.2021 geltende Unternehmensstabilisierungs- und restrukturierungsgesetz (StaRUG) vorgesehenen Pflichten bei drohender Zahlungsunfähigkeit und die damit verbundene Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft haben es nicht in das Gesetz geschafft. Seitdem wird diskutiert, ob der Geschäftsführer trotz der Streichung der §§ 2, 3 StaRUG-RegE verpflichtet ist, ab dem Zustand drohender Zahlungsunfähigkeit zumindest auch oder gar vorrangig die Gläubigerinteressen zu berücksichtigen oder es allein auf die Gesellschafter und deren Interessen ankommt.

Diese Diskussion ist noch lange nicht beendet. Zuletzt ist im Schrifttum der Vorschlag einer (vertragsähnlichen) Restrukturierungsverschleppungshaftung gemacht worden (Hölzle Festschrift Gehrlein, 2022, S. 261). Die Frage lautet, ob und vor allem: ab wann ein sogenannter shift of duties einsetzt – von den Gesellschafterinteressen hin zu den Gläubigerinteressen. Erst im förmlichen Insolvenzverfahren oder schon im Vorfeld von Insolvenzreife und Insolvenzverfahren?

Das Sequana-Urteil des Supreme Court: Anerkennung einer creditor duty

Diese Diskussion um das Pflichtenregime könnte neue Impulse erhalten durch eine aktuelle Entscheidung des UK Supreme Court ([2022] UKSC 25]. In der Sequana-Entscheidung erkannte es der Supreme Court für das englische Recht als Teil der gegenüber der Kapitalgesellschaft geschuldeten Pflichten an, im Stadium der Insolvenznähe auch die Gläubigerinteressen zu berücksichtigen. Diese Figur einer creditor duty geht zurück auf eine maßgebliche Vorgängerentscheidung West Mercia aus dem Jahre 1987, in der jedoch die wesentlichen Einzelheiten der Haftung offengeblieben waren.

Nunmehr hat das Gericht die einzelnen Voraussetzungen weiter konkretisiert. Grundsätzlich gilt demnach auch für das englische Recht, dass die Gesellschafter das Sagen haben und allein ihre Interessen zu bedienen sind, solange es der Gesellschaft wirtschaftlich gut geht. Rutscht jedoch die Gesellschaft in Insolvenznähe, ändert sich das Bild; den wirtschaftlichen Interessen der Gläubiger ist Rechnung zu tragen. Das bedeutet nicht ohne weiteres, dass den Gläubigerinteressen Vorrang gebührt oder gar Rettungsaktionen zu unterlassen wären. Wohl aber gilt es, bei einer geschäftlichen Entscheidung die Risiken für die Gläubiger zu ermitteln und zu bedenken und die Gläubigerinteressen mit dem angemessenen Gewicht mit den Gesellschafterinteressen abzustimmen. Diese Pflicht setzt ein, sobald die Gesellschaft insolvent ist, sich am Rande der Insolvenz befindet (bordering on insolvency), oder ein Insolvenzverfahren bereits wahrscheinlich geworden ist. Verschlechtert sich sodann die wirtschaftliche Situation weiter und wird ein Insolvenzverfahren unausweichlich, wird es regelmäßig erforderlich sein, die Gesellschafterinteressen nur nachrangig nach den Gläubigerinteressen zu berücksichtigen. Insoweit ist das Gewicht, das den Gläubigerinteressen zukommt, von dem erreichten Stadium der wirtschaftlichen Krise abhängig; das Gericht spricht plastisch von der „sliding scale“. Der Supreme Court macht auch deutlich, dass die Gesellschafter den Geschäftsführer nicht über Weisungs- und Freistellungsbeschlüsse von dieser creditor duty dispensieren können.

Beachte | Die genaue Gestalt der Pflicht im Einzelnen bleibt naturgemäß vage; wie die Gläubigerinteressen konkret zu berücksichtigen sind, lässt sich nur im Einzelfall bestimmen. Ebenso bleibt die Schwierigkeit für den Geschäftsleiter, zu erkennen, wann überhaupt ein Zustand des „bordering on insolvency“ erreicht ist. Die Botschaft des Supreme Court ist jedenfalls, dass Geschäftsleiter „should stay informed“.

Impulse für das deutsche Recht?

Das Urteil des Supreme Court hat das Potenzial, auch die kontinentaleuropäische Diskussion zu befruchten. Generell scheut sich das deutsche Gesellschaftsrecht bisher, gläubigerbezogene Pflichten für den Geschäftsleiter vor dem Eintritt in das Insolvenzverfahren oder der förmlichen Anzeige einer Restrukturierungssache nach dem StaRUG anzuerkennen; Gläubigerinteressen werden eher (nur) reflexhaft geschützt und der Einfluss der Gesellschafter bei der GmbH bleibt erhalten. Das Urteil in Sequana könnte hier rechtsvergleichende Impulse liefern. Es erschiene nicht ausgeschlossen, innerhalb der gesellschaftsrechtlichen Pflichten- und Haftungsregeln des § 43 GmbHG, § 93 Abs. 2 AktG eine entsprechende creditor duty zu beheimaten. Ohnehin gilt, dass der Geschäftsführer verpflichtet ist, Sanierungsoptionen zu prüfen, wie dies in § 1 StaRUG mittlerweile gesetzlich normiert ist. Dieser Regel hat die Praxis bisher – zu Unrecht – noch eine zu geringe Aufmerksamkeit geschenkt.

Fazit | Das Sequana-Urteil ist ein wegweisendes Urteil, das jeder grenzüberschreitend tätige Restrukturierungspraktiker auf dem Schirm haben sollte. Geschäftsleiter englischer Kapitalgesellschaften müssen im Stadium einer Insolvenznähe die Gläubigerinteressen berücksichtigen und gewichten und ihnen unter bestimmten Voraussetzungen sogar den Vorrang vor den Gesellschafterinteressen einräumen.