Hat die Überschuldung noch eine Zukunft?
Im Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung wird beschrieben, man wolle die Insolvenzantragspflichten reformieren. Damit steht vor allem der Überschuldungstatbestand des § 19 InsO erneut im Feuer oder jedenfalls die damit nach § 15a InsO verbundene Pflicht für die Geschäftsführer, einen Insolvenzantrag zu stellen. Es ist nicht das erste Mal, dass die Überschuldung ins Blickfeld gerät. Schon bei den vor über zehn Jahren geführten Diskussionen im Zuge der MoMiG-Reform war gelegentlich auf das Vorbild des englischen Rechts verwiesen und die Auffassung vertreten worden, man könne die Antragspflicht zugunsten einer reinen Haftungsregel nach dem Vorbild des englischen wrongful trading aufgeben.
EU-Richtlinie über präventiven Restrukturierungsrahmen
Dass die Überschuldung gerade jetzt auf den Prüfstand gestellt wird, hat mit der verabschiedeten EU-Richtlinie über den präventiven Restrukturierungsrahmen zu tun. Ein zentrales Element des präventiven Restrukturierungsrahmens ist die Aussetzung von Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen (sog. Moratorium). Während der Aussetzung soll die Verpflichtung des Schuldners ruhen, einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu stellen, das zur Liquidation des Schuldners führen könnte. Die Mitgliedstaaten können allerdings nach Art. 7 Abs. 3 eine Ausnahmeregelung für den Fall vorsehen, dass ein Schuldner nicht in der Lage ist, seine fällig werdenden Schulden zu begleichen. Nur bei Zahlungsunfähigkeit des Schuldners ist eine Antragspflicht unter dieser Prämisse auch unter dem Schutz des präventiven Restrukturierungsrahmens nicht ausgeschlossen.
Bei der Überschuldung liegen die Dinge anders, denn die Suspension der Antragspflicht darf bei Überschuldung gerade nicht überwunden werden. Dass während der Aussetzung die Antragspflicht wegen Überschuldung nicht besteht, ist allerdings nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille betrifft das weitaus kritischere Stadium vor Gewährung der Aussetzung. Der Restrukturierungsrahmen soll zur Verfügung stehen, bevor der Schuldner nach nationalem Recht insolvent wird, gleichzeitig soll er nicht früher in Betracht kommen als bei einer „wahrscheinlichen Insolvenz“. Was wahrscheinliche Insolvenz bzw. die in der Insolvenzszene mittlerweile schon berühmt gewordene „likelihood of insolvency“ ist, kann das nationale Recht bestimmen. Für Deutschland bietet sich eine Anlehnung an die drohende Zahlungsunfähigkeit an, weil dieser Tatbestand seit langem gebräuchlich und bekannt ist.
Eine Überschuldung liegt demgegenüber vor, wenn eine bilanzielle Überschuldung nach Liquidationswerten vorliegt und zugleich die Fortführungsprognose negativ ist, also umgekehrt formuliert nicht die überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Sicherung der Zahlungsfähigkeit besteht. Da nun der Überschuldungstatbestand an die Zahlungsfähigkeit anknüpft, ist er von der drohenden Zahlungsunfähigkeit im Hinblick auf die Fortbestehensprognose kaum zu unterscheiden. Liegt nämlich eine drohende Zahlungsunfähigkeit vor, ist die Fortbestehensprognose negativ, jedenfalls soweit sich die Prognosezeiträume decken. Daher wird, bilanzielle Überschuldung vorausgesetzt, bei drohender Zahlungsunfähigkeit häufig auch Überschuldung vorliegen. Unter dieser Prämisse müsste aber der Schuldner – prima vista – schon lange vor der Beantragung und Gewährung der Aussetzung durch das Gericht seiner Antragspflicht nachkommen. Dann aber bleibt fraglich, welche Fälle eigentlich noch für den präventiven Restrukturierungsrahmen bleiben.
Antragspflichtgrund wegen Überschuldung gerät in die Defensive
Ist also die Richtlinie der Sargnagel für die Antragspflicht wegen Überschuldung? So einfach ist es nicht. Es spricht nämlich nichts dagegen, bei der Fortbestehensprognose einzupreisen, ob und dass Verhandlungen für einen Restrukturierungsplan laufen und dass Sanierungsbeiträge zu erwarten sind und dass gegebenenfalls auch ein widerspenstiger Gläubiger über den in der Richtlinie vorgesehenen Cram Down ins Boot geholt werden kann. Unter dieser Voraussetzung erscheint die Zahlungsfähigkeit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als gesichert und folglich die Fortbestehensprognose positiv.
Es bleibt dann das Problem, wie sich das zur drohenden Zahlungsunfähigkeit verhält, wenn man die nach der Richtlinie vorgesehene drohende Insolvenz mit der drohenden Zahlungsunfähigkeit gleichsetzt. Es dürfte zu unterscheiden sein zwischen der drohenden Zahlungsunfähigkeit als Zustandsbeschreibung und als Einleitungsvoraussetzung für den präventiven Restrukturierungsrahmen. Denn wenn die Frage zu stellen ist, ob eine Aussetzung gewährt werden darf, und insofern inzident zu prüfen ist, ob eine wahrscheinliche Insolvenz im Sinne der Richtlinie vorliegt, wird man die Gegenmaßnahmen, die erst durch den Rahmen erfolgen sollen, ausklammern müssen. Alles andere wäre zirkulär.
Beachte | Umgekehrt gilt: Wenn die Verhandlungen von vornherein keinen Erfolg versprechen, ist auch nicht einzusehen, warum in diesen Fällen keine Antragspflicht greifen sollte.
Auch unabhängig von der Richtlinie gerät der Überschuldungstatbestand als Antragspflichtgrund in die Defensive. Die Prognoserisiken machen eine wasserfeste Beratung von Geschäftsführern schwierig. Viele Geschäftsführer wissen zudem gar nicht, dass sie nicht erst bei Zahlungsunfähigkeit, sondern schon bei Überschuldung einen Antrag stellen müssen. Auch auf rechtsvergleichende Vorbilder wird verwiesen. Schließlich wird auf das Strafbarkeitsrisiko hingewiesen, etwa nach den Bankrottstraftaten, die auch an die Überschuldung anknüpfen. Vor allem aber ist den rechtspolitischen Gegnern der Antragspflicht die scharfe Haftung nach § 64 GmbHG ein Dorn im Auge. Auch in internationalen Restrukturierungsszenarien großer Unternehmensgruppe kann die deutsche Antragspflicht Schwierigkeiten machen.
Fazit | Diese Bedenken gegen den Überschuldungstatbestand sind nicht von der Hand zu weisen. Gleichwohl sollte man die Antragspflicht bei Überschuldung nicht leichtfertig aufgeben. Das Strafbarkeitsrisiko wird gemeinhin überschätzt. Jedenfalls ist es nicht spezifisch an die Überschuldung geknüpft. Die Antragspflicht bei Überschuldung hat den guten Grund, das Risiko für die Gläubiger zu begrenzen. Der Schuldner kann nämlich nach Erhalt des Kredites durch den Gläubiger risikoreich agieren, das Gesellschaftsvermögen ausplündern und die Gläubigerforderungen durch neue Verschuldung entwerten.
Der Überschuldungstatbestand dient dem präventiven Gläubigerschutz. Wenn ein Geschäftsführer bei bilanzieller Überschuldung eine Fortbestehensprognose aufstellen muss, erscheint das nicht zu viel verlangt. Letztlich kann man nicht beides haben. Wer darauf hinwirken will, dass das Unternehmen nicht bis zum bitteren Ende durchgeschleppt wird, muss auf eine rasche Antragstellung hinwirken; dazu kann die Überschuldung als Antragsgrund beitragen.