European Insolvency & Restructuring Insolvenzsteuerrecht
Christoph Uhländer

Die vorläufige Eigenverwaltung im Spannungsfeld zwischen Insolvenz- und Steuerrecht

Das Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz vom 22.12.2020 (BGBl. I, S. 3257) hat einerseits § 55 Abs. 4 InsO auf den vorläufigen Sachwalter erweitert und andererseits auf die Umsatzsteuer und vergleichbare Abgaben beschränkt. Diese Neuregelung ist auf Insolvenzverfahren, die ab dem 1.1.2021 beantragt werden, anzuwenden (Art. 103m EGInsO). Die Auswirkungen dieser Rechtsänderungen sind Gegenstand einer Vielzahl von Diskussionsbeiträgen in der Literatur (vgl. z.B. Kruth, MwStR 2021, S. 449 ff.; Wäger, DStR 2021, S. 825 ff.; Schmidt, DStR 2021, S. 693 ff.; Witfeld, ZRI 2021, S. 173 ff.; Kahlert, DStR 2021, S. 1505 ff.; Schulze/Vogel/Huhle, UR 2021, S. 213 ff.; Uhländer, DB 2021, S. 16 ff., 1027 ff.). Auch die Finanzverwaltung wird das bisherige BMF-Schreiben zu § 55 Abs. 4 InsO vom 20.5.2015 – IV A 3 – S 0550/10/10020-05 zeitnah überarbeiten müssen, um den Verfahrensbeteiligten den Anwendungsbereich des § 55 Abs. 4 InsO in der vorläufigen Eigenverwaltung aus Sicht des Steuergläubigers zu erläutern.

Verfahren mit Antragstellung bis 31.12.2020 (§ 55 Abs. 4 InsO a.F.)

Der Umsatzsteueranspruch für einen Besteuerungszeitraum, in dem der Unternehmer einem Eröffnungsverfahren mit vorläufiger Eigenverwaltung nach § 270a InsO unterliegt, war weder nach § 55 Abs. 2 InsO noch nach § 55 Abs. 4 InsO eine Masseverbindlichkeit; auch eine analoge Anwendung dieser Vorschrift ist nicht in Betracht gekommen (so zutreffend BFH-Urteil vom 7.5.2020 – V R 14/19 unter Bezugnahme auf BGH-Urteil v. 22.11.2018 – IX ZR 167/16). Vereinnahmt indes der Insolvenzschuldner im Rahmen der Eigenverwaltung das Entgelt für eine vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ausgeführten Leistung, begründet dies nach Ansicht des BFH eine Masseverbindlichkeit gem. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO (BFH-Urteil vom 27.9.2018 – V R 45/16; vgl. demgegenüber z.B. Witfeld, ZRI 2021, S. 173 ff.). § 55 Abs. 4 InsO ist zudem nur auf Masseverbindlichkeiten, nicht aber auch auf Vergütungsansprüche zugunsten der Masse anzuwenden (so jedenfalls BFH-Urteil vom 23.7.2020 – V R 26/19).

Verfahren mit Antragstellung ab dem 1.1.2021 (§ 55 Abs. 4 InsO n.F.)

Umsatzsteuerverbindlichkeiten des Insolvenzschuldners, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters oder vom Schuldner nach Bestellung eines vorläufigen Sachwalters begründet worden sind, gelten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 4 Satz 1 InsO n.F.). Den Umsatzsteuerverbindlichkeiten stehen sonstige Ein- und Ausfuhrabgaben, bundesgesetzlich geregelte Verbrauchsteuern, die Luftverkehr- und die Kraftfahrzeugsteuer sowie die Lohnsteuer gleich (§ 55 Abs. 4 Satz 2 InsO).

Die Gesetzesbegründung rechtfertigt die Erweiterung des § 55 Abs. 4 InsO auf die vorläufige Eigenverwaltung wie folgt (BT-Drucks. 19/25353 v. 16.12.2020, S. 13): „Mit den Änderungen wird der Anwendungsbereich der Vorschrift einerseits auf die vorläufige Eigenverwaltung erstreckt, andererseits auf bestimmte Steuerarten beschränkt. … Der eigenverwaltende Schuldner kann die Masse bislang bewusst dadurch anreichern, dass er die vom Kunden erhaltenen Umsatzsteuern vereinnahmt, diese aber nicht an den Fiskus abführt. Sofern der eigenverwaltende Schuldner die Steuer zahlt, kann sie nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens der Anfechtung unterliegen. Dies wirkt sich auch verzerrend auf den Wettbewerb und zulasten solventer Konkurrenten aus, da der eigenverwaltende Schuldner seine Produkte oder seine Dienstleistungen zu niedrigeren Preisen anbieten kann. Da diese Verwerfungen hauptsächlich dort entstehen, wo der Schuldner die durch seine Tätigkeit entstehende Steuer von einem Dritten zwecks Abführung an den Fiskus erhalten hat, wird die Regelung auf solche Steuerarten begrenzt, die darauf ausgelegt sind, über den Preis auf den Leistungsempfänger abgewälzt zu werden. Dies ist zum einen die Umsatzsteuer einschließlich der Einfuhrumsatzsteuer. … Gleiches gilt für die sonstigen Ein- und Ausfuhrabgaben und andere Abgaben der Europäischen Union, die bundesgesetzlich geregelten Verbrauchsteuern, einschließlich der Biersteuer, sowie für die Luftverkehrsteuer und die Kraftfahrzeugsteuer. Die weitere Einbeziehung dieser Abgaben ist systemgerecht, weil diese auch überwiegend auf eine Abwälzung auf den Verbraucher ausgelegt sind. Zudem knüpft das Entstehen dieser Abgaben grundsätzlich an bestimmte Handlungen des Schuldners an, weil der Steuertatbestand in der Regel durch das Erbringen einer bestimmten Leistung bzw. durch den Übergang der Ware in den freien Verkehr ausgelöst wird. Gleiches gilt für die Lohnsteuer, da hier der Schuldner die Lohnsteuer für Rechnung des Arbeitnehmers an die Finanzbehörden abzuführen hat. Praktische Auswirkungen hat diese Regelung aber nur in den Fällen, in denen der Zeitraum der vorläufigen Insolvenzverwaltung bzw. der vorläufigen Eigenverwaltung die Dauer der Zahlung des Insolvenzgeldes durch die Bundesagentur für Arbeit überschreitet.“

M.E. hat der Gesetzgeber hiermit einen typisierenden Anwendungsbereich des § 55 Abs. 4 InsO n.F. geschaffen, der zunächst nicht auf die jeweiligen konkreten Regelungsbefugnisse des vorläufigen Sachwalters abstellt (vgl. Uhländer, DB 2021, S. 1027 ff.). Hiervon abzugrenzen ist z.B. die Fragestellung, ob die sog. Doppelberichtigungsrechtsprechung des BFH beim Einzug von Altforderungen in der vorläufigen Eigenverwaltung durch den Schuldner nach Bestellung eines vorläufigen Sachwalters anzuwenden ist. Dies ist abzulehnen, da die „Vereinnahmungszuständigkeit“ in der vorläufigen Eigenverwaltung grundsätzlich beim Schuldner selbst verbleibt. „Normale“ Ausgangsumsätze im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren unterfallen nach  Bestellung eines vorläufigen Sachwalters  jedoch nunmehr dem Anwendungsbereich des § 55 Abs. 4 InsO n.F., um „Verwerfungen“ und „Wettbewerbsverzerrungen“ gegenüber solventen Konkurrenten zu vermeiden.

Hinweis | Nur im Anwendungsbereich des § 270b Abs. 1 Satz 2 InsO n.F. kann gem. § 270c Abs. 3 Satz 2 InsO n.F. das Insolvenzgericht anordnen, dass Verfügungen des Schuldners der Zustimmung durch den vorläufigen Sachwalter bedürfen (vgl. hierzu BT-Drucks. 19/24181 S. 206: „Mit einer solchen Anordnung wird die Verfügungsbefugnis des Schuldners, die in der (vorläufigen) Eigenverwaltung gerade erhalten werden soll, temporär eingeschränkt.“).

Einen weiteren Sonderfall regelt § 270c Abs. 4 InsO Satz 1 n.F., wonach auf Antrag des Schuldners das Insolvenzgericht anzuordnen hat, dass der Schuldner Masseverbindlichkeiten begründet. Soll sich die Ermächtigung auf Verbindlichkeiten erstrecken, die im Finanzplan nicht berücksichtigt sind, bedarf dies einer besonderen Begründung (§ 270c Abs. 4 Satz 2 InsO n.F.). § 55 Abs. 2 InsO gilt entsprechend (§ 270c Abs. 4 Satz 3 InsO n.F.).

Umsatzsteuerrechtliche Organschaft in der vorläufigen Eigenverwaltung

Die Auswirkungen der Anordnungen der vorläufigen Eigenverwaltung unter Bestellung eines vorläufigen Sachwalters erörtert das BMF-Schreiben vom 22.6.2021 – III C 2 – S 7105/20/10001 :001: „Mit BMF-Schreiben vom 4. März 2021, III C 2 – S 7105/20/10001 :001, BStBl I S. 316 haben die obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder beschlossen, dass weder die Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung beim Organträger noch die Anordnung der vor­läufigen Eigenverwaltung bei der Organgesellschaft eine Organschaft beenden, wenn das Insolvenzgericht lediglich bestimmt, dass ein vorläufiger Sachwalter bestellt wird, sowie eine Anordnung gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 InsO erlässt (vgl. BFH-Urteil vom 27. November 2019, XI R 35/17, BStBl 2021 II S. 252). Im Rahmen des SanInsFoG vom 22. Dezember 2020 wurde die Insolvenzordnung bezüglich der Regelungen zum Eigenverwaltungsverfahren (§§ 270 ff. InsO) ergänzt. Nach § 276a Abs. 3 InsO in der ab dem 1. Januar 2021 geltenden Fassung findet nunmehr § 276a Abs. 1 InsO auch vor Verfahrenseröffnung Anwendung, wenn die vorläufige Eigenverwaltung oder eine andere Sicherungsmaßnahme angeordnet wurde. Gemäß § 5 Abs. 1 COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz (COVInsAG) ist § 276a InsO auf Eigenverwaltungsverfahren, die zwischen dem 1. Januar 2021 und dem 31. Dezember 2021 beantragt werden, grundsätzlich in der bis zum 31. Dezember 2020 geltenden Fassung weiter anzuwenden, wenn die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung des Schuldners auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen ist. Unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Erörterung mit den obersten Finanzbehörden der Länder wird im Umsatzsteuer-Anwendungserlass vom 1. Oktober 2010, BStBl I S. 846, der zuletzt durch das BMF-Schreiben vom 9. Juni 2021-III C 2 – S 7110/19/10001 :002 (2021/0601464) … geändert worden ist, in Abschnitt 2.8. Abs. 12 nach Satz 6 folgender Satz 7 angefügt: Satz 6 gilt nicht für vorläufige Eigenverwaltungsverfahren, die nach dem 31.12.2020 angeordnet wurden, es sei denn, diese fallen unter die Anwendung des § 5 Abs. 1 COVID­19-Insolvenzaussetzungsgesetz (COVInsAG). Die Regelungen dieses Schreibens sind in allen offenen Fällen anzuwenden.“

Beachte | Die Rechtsfolgen der Beendigung der umsatzsteuerrechtlichen Organschaft in der Insolvenz hat die Finanzverwaltung im übrigen in der Verfügung der OFD Frankfurt vom 28.7.2021, DStR 2021, S. 1845 dezidiert thematisiert.

Drittwirkung der Steuerfestsetzung bei Organschaft (§ 166 AO)

Eine bemerkenswerte aktuelle Grundsatzentscheidung zur Reichweite des § 166 AO in den Fällen der umsatzsteuerrechtlichen Organschaft hat der BFH im Urteil vom 26.8.2021 – V R 13/20 am 7.10.2021 veröffentlicht. Ist für eine Organgesellschaft entgegen § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG eine Steuerfestsetzung ergangen, ergibt sich hieraus nach Ansicht des V Senats eine Drittwirkung i.S. von § 166 AO. Der Organträger kann dann keinen Vorsteuerabzug aus Eingangsleistungen geltend machen, die von Dritten über die Organgesellschaft bezogen wurden. Das Recht des Organträgers, die Nichtbesteuerung von Innenleistungen geltend zu machen, die er an die Organgesellschaft erbracht hat, bleibt unberührt. Bei einer Rechtsprechungsänderung können Organträger und Organgesellschaften nicht beanspruchen, im selben Besteuerungszeitraum für den einen Unternehmensteil (hier: Organgesellschaft) auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung und für den anderen Unternehmensteil (hier: Organträger) nach der geänderten Rechtsprechung besteuert zu werden.

Fazit | Die Rechtsanwendung im Insolvenzsteuerrecht bleibt gerade auch in der vorläufigen Eigenverwaltung eine Herausforderung für alle Beteiligten, da die aktuellen Rechtsänderungen des SanInsFoG nicht auf die Wechselwirkungen zwischen dem Insolvenz- und Steuerrecht abgestimmt sind.