Im Steuerhimmel läuten die Zins-Glocken
Konsumiert man dieser Tage die einschlägigen Artikel der Presse zum Steuerrecht, dann kommt man an einem Thema nicht vorbei: Endlich! Der BFH, er nimmt das Heft des Handelns in die Hand, er verwirft den „Wucher-Zins der Finanzämter“, so der Kölner Stadt-Anzeiger, der dann sogleich noch im selben Jargon nachlegt: „Der Staat als Wucherer“. Gleichfalls die Frankfurter Neue Presse: „Staat schröpft säumige Steuerzahler“. Und so reißerisch geht das dann voran: „Sechs, setzen“ verkündet die Süddeutsche Zeitung. „Das hat gesessen!“ vermeldet das Handelsblatt. Der „Fokus“ attestiert dem Fiskus „Eine echte Klatsche“, die „Welt“ eine „Verdiente Ohrfeige“ und sie vernimmt zudem einen „Paukenschlag“. Worum geht es?
BFH: Realitätsferner Zinssatz verstößt gegen das Gleichheitsgebot
Es geht um die sog. Vollverzinsung, der sich Fiskus wie Bürger seit 1989 erfreuen können, und hierbei konkret um die bereits zuvor zu Zeiten der vorangehenden Teilverzinsung seit 1961 unveränderte Zinshöhe von 6 Vomhundert. Dieser „Preis“ dünkt fremd, beäugt man das seit Jahren niedrigverzinsende Banken-Umfeld. Und deswegen wähnt der BFH in Gestalt seines IX. Senats einen Verfassungsverstoß, der ihn bewog, einen einschlägigen Zinsfestsetzungsbescheid von der Vollziehung auszusetzen. Das geschah – recht karg und knapp begründet – im Beschluß vom 25.4.2018 IX B 21/18, der Öffentlichkeit am 14.5.2018 preisgegeben. Und so wurde es denn auch vom Präsidenten des BFH, unter dessen Vorsitz besagte Entscheidung erging, auf dem Deutschen Steuerberaterkongress gleich am selben Tag, sozusagen just in time, vertont: Der realitätsferne Zinssatz verstoße gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes. Der Zinsfuß sei angesichts der „strukturellen und nachhaltigen Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus“ nicht belastbar zu begründen. Daß der Staat nicht nur nehme, sondern auch gebe, indem Nachzahlungs- wie Erstattungszinsen gleichermaßen besagte sechs Prozent kosten, sei unbeachtlich; dann seien eben die Erstattungszinsen „in gleicher Weise als nicht realitätsgerecht anzusehen“.
Beachte | Als tauglichen Referenzrahmen für den Hochzins läßt der IX. Senat jedenfalls nicht gelten, daß Kreditkarten- und Dispozinsen gleichermaßen hoch valutieren. Das beruhe auf „Sonderfaktoren“, die sich für den Steuerzins nicht verwenden ließen.
Ist das nur ein Fanal? Oder ist das auch in der Sache tragfähig?
Ist das nun vor allem ein Fanal? Oder ist da wirklich „was dran“? Ich habe zumindest Zweifel, daß das Erwogene in der Sache trägt. Natürlich ist unbestritten, daß besagte 6 Prozent ärgerlich sind und gegenwärtig (und seit geraumer Zeit) eher „künstlich“ daherkommen. Natürlich ist ebenso gewiß, daß alle Welt – Fachwelt ebenso wie der „einfache Bürger“, Verbände und Steuerzahlerbünde – nach einem flexiblen, „marktindexierten“ Zinsfuß ruft, und das mit durchweg guten, jedenfalls nachvollziehbaren Argumenten. Daß das auch „technisch“ machbar ist, belegt der BFH in seinem Beschluß durch Querverweis auf das bayerische Kommunalabgabengesetz, wo solches seit 2014 praktiziert werde. Ähnliches ist aus dem Ausland überliefert.
Doch ist all dieses Erwägen auch verfassungsrelevant, ist das handwerklich sauber abgeleitet? Ein „Ärgernis“, etwas „Unschönes“ ist nicht gleich verfassungswidrig. Muß der Zins tatsächlich „ungefähr“, „irgendwie“ den Realzins spiegeln? Müssen dem Staat nicht Freiräume bleiben, muß er nicht, auch grob, typisieren und einen Zinssatz „fixieren“ können, janusköpfig konsequent und zinszyklenübergreifend für gute (= zinshohe) wie für schlechte (= zinsniedrige) Zeiten? Darf er nicht sogar „das“ Normtelos der Zinsregelungen verändern und neben der Abschöpfung des Nutzungsvorteils ein mittelbares „Druckkonzept“ verfechten, um die zeitnahe Abgabe von Steuererklärungen zu bewirken oder Mißbräuchen entgegenzutreten? Im Ergebnis exakt in diese Richtung hat für die Zinsfrage denn auch erst soeben der III. Senat des BFH in seinem am 27.2.2018 auf der Jahrespressekonferenz des Gerichts veröffentlichten Urteil vom 9.11.2017 III R 10/16 erkannt und manche der einschlägigen Argumente in vielleicht konträr diskutabler Weise, dennoch „valide“ abgewogen.
Vorerst „nur“ ein Beschluß im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
Und jetzt kommt das Handwerkliche ins Spiel. Der IX. Senat des BFH hat die erstbeste Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und das Thema mit seiner neuen Sichtweise besetzt. Bei dieser Gelegenheit handelt es sich aber eben „nur“ um ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, für das ein bloß summarischer Prüfmaßstab genügt, um sog. ernstliche Zweifel an einer Steuer- oder hier einer Zinsfestsetzung darzutun, und über das zudem nicht durch Urteil, vielmehr lediglich im Beschlußwege entschieden wird, bei einem Bundesgericht gemeinhin in bloßer sog. Dreierbesetzung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zuweilen, wenn auch sehr selten, sogar nur durch einsame Vorsitzendenentscheidung.
Nun mag man bekunden: Solche ernstlichen Zweifel mögen für die Zinshöhe außer Frage stehen, gerade in Anbetracht eines nur summarischen Maßstabs. Doch geht es in casu nicht um eine „einfache“ Rechtswidrigkeit, sondern um Verfassungsrecht, und dafür verlangt die Regelungslage, wie allseits geteilt wird, einiges darüber hinaus: Es muß sehr sorgsam abgewogen werden, ob „nach den Umständen des Einzelfalles ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht, dem der Vorrang vor dem öffentli-chen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt“. Das wird vom IX. Senat des BFH bejaht und kurzerhand mit den zwischenzeitlich verringerten Säumniszuschlägen in § 152 Abs. 5 AO ab 2018 und dem veränderten Abzinsungssatz von Rückstellungen für Altersvorsorgeverpflichtungen in der Handelsbilanz ab 2016 abgetan.
Ob das hier wirklich ausreicht? Das BVerfG hat in der Vergangenheit einen durch die Zinshöhe ausgelösten Verfassungsverstoß verneint. Das betraf allerdings die Veranlagungszeiträume 2003 bis 2006. Seitdem ist einiges Wasser an Niedrigzinsphase die Elbe hinabgelaufen, und deswegen mühen sich manche Steuerbürger vermittels Verfassungsbeschwerden gegen „ihre“ Zinsfestsetzungen betreffend die Folgejahre. So liegt es auch momentan, und darüber wird das BVerfG alsbald zu befinden haben, bezogen auf die Jahre 2012 und 2014. Ein „echtes“ Normenkontrollersuchen hat die obersten Verfassungshüter indessen noch nicht erreicht. Das ist womöglich bedauerlich, denn ein Karlsruher Diktum schafft Rechtsklarheit, so oder so.
Es bleiben noch viele offene Fragen
Gerade aber erst hat, das wurde schon gesagt, ein anderer Senat des BFH genau das Gegenteil bekundet und sich nicht von einem Verfassungsverstoß überzeugt gezeigt. Selbst der nunmehr „aufmüpfige“ IX. Senat des BFH hat noch vor nicht allzu langer Zeit genauso entschieden, zunächst im Urteil vom 1.7.2014 IX R 31/13, es betraf die Streitjahre 2004 bis 2011, sodann im Urteil vom 14.4.2015 IX R 5/14 für die Jahre 2008 bis 2011. Hat sich seitdem tatsächlich so viel geändert, daß das Ganze nun für die Jahre 2015 bis 2017 „umkippt“? Sind die Grundkoordinaten für die Entscheidungsfindung bei Licht betrachtet nicht doch dieselben und werden sie lediglich anders bewertet? Was haben die neuerlich verringerten Säumniszuschläge, was hat der veränderte Abzinsungssatz von Rückstellungen für Altersvorsorgeverpflichtungen in der Handelsbilanz mit dem Zinsfuß nach § 238 AO zu tun? Zeigt das doch nur (und zudem für weitgehend anders gelagerte Bereiche) das rechtlich Mögliche, nicht unbedingt das rechtlich Gebotene. Vor allem aber: Geht der BFH tat-sächlich davon aus, das BVerfG würde die Zinshöhe, wie sie in § 238 AO justiert ist, ex ovo verwerfen? Ist nicht eher zu erwarten, daß es dem Gesetzgeber allein schon wegen der beträchtlichen (und vom IX. Senat wundersamerweise nicht weiter erwähnten) Breitenwirkung allen- und jedenfalls für die Vergangenheit Dispens einräumt, wie das so oft geschieht? Ist dann die Abwägungshürde zur Vollzugsaussetzung nicht „zu leicht“ genommen worden?
So oder so: Eine „politische“ Entscheidung mit Augenmaß tut not
Fragen über Fragen. Man mag darüber diskutieren, mit dem feinen Florett des Fachmanns, mit dem skandalheischenden „Wucher-Hammer“ der Presse oder dem em-pörten „Kann doch nicht sein!“ des Stammtischs. Wichtig ist es, kühlen Kopf zu bewahren. Und danach sollte gelten:
Nicht alles, was nicht schön oder unmittelbar eingängig ist, ist auch verfassungswidrig. Der Gesetzgeber sollte sich allerdings – politisch, nicht unbedingt rechtlich – fragen, ob er den Steuerbürger nicht auf seinem Weg „mitnehmen“ will, etwa dadurch, daß er die Steuerpflicht der Erstattungszinsen mit der Abziehbarkeit der Nachzahlungszinsen korrespondieren läßt – wie das früher, bis 1998, auch geschah, und auch, wenn das seinerseits verfassungsrechtlich nicht geboten sein mag (letzteres bekundet und begründet der BFH im Urteil vom 6.10.2009 I R 39/09). Oder schlicht, indem er dem Steuerbürger als fair empfundene „Preise“ anbietet.
Er sollte auch bedenken, daß die Zinsfrage in der Beratungspraxis eine erhebliche Rolle dafür spielt, ob man ein Rechtsmittel gegen einen Steuerbescheid führt oder ob man das lieber seinläßt, ob die Cash-Liquidität ausreicht, um den Staat als „Sparkasse“ zu nutzen, was in der eigentlichen steuerrechtlichen Streitfrage dann den Blick in die Glaskugel und die Einholung einer teuren „more than-opinion“ für die Erfolgsaussichten bedingt. Hier werden Ressourcen gebunden, die eines Rechtsstaats unwürdig sind, weil die Folgekosten eines Rechtstreits nicht einen derart großen Einfluß nehmen sollten, wird doch andernfalls die Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes ausgehöhlt und gründlich mißverstanden – und das wäre dann tatsächlich doch ein veritabler Verfassungsverstoß.
Ausblick | Allseits wird jetzt empfohlen, Zinsfestsetzungen fortan anzufechten. Das ist eine „Binsen-erkenntnis“. Sie sei dennoch beherzigt. Aber die Erwartungen, die damit geschürt werden und ver-bunden sein mögen, sollten gleichwohl keine zu hochgeschraubten sein.