European Insolvency & Restructuring Grenzüberschreitende Insolvenz
Reinhard Bork

Harmonisierung des Insolvenzrechts: ein unmögliches Unterfangen?

Es besteht allgemein Einigkeit darüber, dass die Vielfalt der nationalen Insolvenzgesetze grenzüberschreitende Geschäfte, Insolvenzverfahren und Restrukturierungsbemühungen behindert. Gläubiger, die einem Schuldner, der in einem anderen Staat ansässig ist, einen Kredit gewähren, müssen sich immer auch des Risikos der Insolvenz des Schuldners bewusst sein. Kommt es zu einem Insolvenzverfahren, so richtet sich dieses grundsätzlich nach der lex fori concursus (vgl. Art. 7 EIR).

Diese kann sich massiv vom Insolvenzrecht des Heimatlandes des Gläubigers unterscheiden, was zu großer Rechtsunsicherheit für den Gläubiger führen kann und die Transaktionskosten für Kredit- und Sicherungsverträge erhöht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass die Europäische Kommission auf EU-Ebene eine Harmonisierung der nationalen Insolvenzrechte anstrebt. Sie hat deshalb ihre Expertengruppe für Restrukturierung und Insolvenzrecht (E03362) reaktiviert und will sich bis Ende Juni 2022 zur Harmonisierung des Insolvenzrechts äußern.

Ambitionierte Themenliste

Die nicht abschließende Liste der von der Kommission ins Auge gefassten Themen umfasst die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens (einschließlich einer Definition des Begriffs „Insolvenz“ und der Bestimmungen darüber, wer berechtigt ist, einen Insolvenzantrag zu stellen), die Voraussetzungen und Rechtsfolgen von Insolvenzanfechtungsklagen, die Pflichten der Geschäftsführer beim Umgang mit drohender bzw. eingetretener materieller Insolvenz, die insolvenzrechtliche Stellung gesicherter Gläubiger unter Berücksichtigung spezifischer Erfordernisse für den Schutz anderer Gläubiger (z. B. von Arbeitnehmern und Lieferanten), die Gewährleistung fachlich professioneller Gerichte sowie die erforderliche Ausbildung von Richtern, schließlich das Aufspüren von Vermögenswerten, was insbesondere im Zusammenhang mit Anfechtungsklagen von Bedeutung ist.

Für jeden, der mit der Materie vertraut ist, ist dies ein beeindruckender Katalog und man darf sicher sagen, dass diese Liste in einem Jahr nicht solide abgearbeitet werden kann oder zumindest als ziemlich ehrgeizig empfunden werden muss. Aber ist solch ein Unterfangen überhaupt möglich?

Europäischen Kommission liegt Vorschlag für ein Modellgesetz vor

Grundsätzlich kann man diese Frage bejahen. Einer der Bereiche, für die eine Harmonisierung näher in Betracht gezogen werden könnte, ist das Insolvenzanfechtungsrecht. Zusammen mit meinem Kollegen Michael Veder, Professor an der Radboud Universität Nijmegen/NL, habe ich ein breit angelegtes und umfangreiches Forschungsprojekt zur Harmonisierung dieses Bereichs des Insolvenzrechts durchgeführt. Unterstützt wurden wir dabei von einer internationalen Arbeitsgruppe, die sich aus führenden Anfechtungsrechtsexperten aus allen EU-Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich zusammensetzte. Wir haben unsere Arbeit jetzt abgeschlossen und der Europäischen Kommission einen Vorschlag für ein Modellgesetz vorgelegt, das neun Paragrafen zur Insolvenzanfechtung umfasst und in dem kürzlich veröffentlichten Abschlussbericht (vgl. Bork/Veder, Harmonisation of Transactions Avoidance Law, Cambridge/Antwerp/Chicago (Intersentia), 2022) intensiv begründet wird.  Das Modellgesetz befasst sich mit den allgemeinen Voraussetzungen der Insolvenzanfechtung (z.B. dem Erfordernis, dass die anfechtbare Handlung einen Nachteil für die Gesamtheit der Gläubiger verursacht hat), den objektiven und subjektiven Elementen der Anfechtungsgründe (kongruente und inkongruente Deckungen, unentgeltliche Leistungen, vorsätzlich gläubigerbenachteiligende Rechtshandlungen) und den Rechtsfolgen sowohl für den unmittelbaren Empfänger des anfechtbaren Geschäfts als auch für Dritte.

Entscheidung für Ende Juni 2022 erwartet

Unser Vorschlag ist der erwähnten Expertengruppe vorgelegt und von ihr erörtert worden. Sie unterstützt unsere Ideen nachdrücklich. Die Kommission hat eine offizielle Entscheidung für Ende Juni 2022 angekündigt. Sie hat dabei die Wahl, den gesetzgebenden Organen der EU eine Verordnung, eine Richtlinie, eine Empfehlung oder gar keine Maßnahme vorzuschlagen. In diesem Zusammenhang könnte es hilfreich sein, dass unser Forschungsprojekt Folgenabschätzungen zu den Konsequenzen für die nationalen Insolvenzrechte der EU Mitgliedstaaten umfasst, falls das Modellgesetz zur Vorlage für eine Richtlinie werden sollte. Diese Folgenabschätzungen belegen, dass eine Harmonisierung des Insolvenzanfechtungsrechts auf der Grundlage des Modellgesetzes machbar ist.

Zum Schluss | Derzeit deutet alles darauf hin, dass sowohl die Expertengruppe als auch die Mitglieder des zuständigen Referats für Ziviljustiz der Europäischen Kommission empfehlen werden, unser Modellgesetz in eine Richtlinie zu gießen. Jedenfalls hat die zuständige Direktorin der GD JUST, Salla Saastamoinen, Direktorin für Zivil- und Handelsrecht, bereits am 25. November 2021 auf einer Online-Konferenz des unabhängigen Insolvenzrechtsnetzwerks CERIL angekündigt, dass die Europäische Kommission entsprechend vorgehen werde. Dies ist ein bemerkenswerter Beleg dafür, dass akademische Forschung eine erhebliche politische Wirkung haben kann. Allerdings ist der Weg zur Harmonisierung dornenreich. Sobald das Thema nicht mehr in den Händen von Wissenschaftlern und Experten liegt, werden andere Einflüsse an Gewicht gewinnen. On verra!