European Insolvency & Restructuring Grenzüberschreitende Insolvenz
Reinhard Bork

Prinzipienbasierte Harmonisierung des Anfechtungsrechts

Die Insolvenzanfechtungsrechte in Europa divergieren ganz erheblich. Die Niederlande kennen zum Beispiel keine Schenkungsanfechtung, Frankreich hat keine Vorsatzanfechtung. Im Gegensatz zu Deutschland, Frankreich, Polen, Portugal und Schweden ist die Befriedigung durch Zwangsvollstreckung in England, Malta, den Niederlanden, Tschechien, der Slowakei und Spanien nicht anfechtbar. Bei der Schenkungsanfechtung verlangen England, Frankreich, Tschechien und die Slowakei die materielle Insolvenz des Schuldners im Moment der Schenkung, viele andere nicht. Bei der Vorsatzanfechtung beträgt der Anfechtungszeitraum in Slowenien ein Jahr, in Kroatien und Deutschland zehn Jahre, Dänemark, England, Finnland und Portugal haben überhaupt keine zeitliche Begrenzung.

Grenzüberschreitende Insolvenzen

Das alles macht es für Insolvenzverwalter bei grenzüberschreitenden Insolvenzen sehr schwierig, anfechtbar erlangte Vermögenswerte in die Masse zurückzuholen. Wird beispielsweise in Deutschland ein Insolvenzverfahren eröffnet und hat ein englischer Gläubiger in ein englisches Konto des deutschen Schuldners vollstreckt, dann ist das nach deutschem Recht nach Maßgabe von § 131 InsO anfechtbar, nach englischem Recht hingegen nicht. Solche Friktionen treten bei grenzüberschreitenden Anfechtungsfällen – also dann, wenn die anzufechtende Rechtshandlung im Ausland vollzogen wird oder jedenfalls im Ausland belegenes Vermögen betrifft – immer wieder auf.

Art. 16 EuInsVO biete da keine Abhilfe. Die Norm erlaubt dem Anfechtungsgegner den Nachweis, dass sich die anfechtbare Rechtshandlung nach einem anderen Recht als dem des Eröffnungsstaates richtet und dass sie nach diesem Recht nicht anfechtbar ist. Obwohl die Beweislast beim Anfechtungsgegner liegt, ist es für einen Insolvenzverwalter häufig unzumutbar schwierig, die Rechtslage und das Risiko eines Anfechtungsprozesses richtig einzuschätzen. In der Praxis werden deshalb grenzüberschreitende Anfechtungsansprüche häufig verglichen oder gar nicht erst verfolgt.

Beachte | Die Praxis verlangt daher seit Langem nach einer Harmonisierung wenigstens der Grundtatbestände.

Internationales Team erarbeitet Harmonisierungsvorschläge

Einen Vorschlag für eine solche Harmonisierung zu erarbeiten hat sich nun ein internationales Team zur Aufgabe gesetzt. Zusammen mit meinem holländischen Kollegen Michael Veder habe ich eine Arbeitsgruppe gebildet, in der aus jedem Mitgliedstaat der EU eine Person mitarbeitet, die sich in ihrem nationalen Anfechtungsrecht gut auskennt. Das sind teilweise renommierte Wissenschaftler, teilweise auch wissenschaftlich interessierte Praktiker, was auch für eine gesunde Praxisnähe sorgen soll. Immerhin drei Mitgliedstaaten sind durch Richterinnen und Richter des jeweiligen Supreme Court vertreten. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sind derzeit dabei, auf der Basis eines umfangreichen Fragenkatalogs Länderberichte zu erstellen, die Michael Veder und ich dann auswerten und auf deren Basis wir einen Harmonisierungsvorschlag erarbeiten wollen.

Aufbauen kann das Projekt auf Vorarbeiten des unabhängigen wissenschaftlichen Netzwerks CERIL (Conference of European Restructuring and Insolvency Law). Die dort von mir geleitete Arbeitsgruppe zum Anfechtungsrecht hat bereits 2017 eine Studie zur Bedeutung der Grundprinzipien für die besondere Insolvenzanfechtung durchgeführt. Das war gleichsam ein „Versuchsballon“ für das jetzige Vorhaben. Die damaligen Ergebnisse haben uns ermutigt, auf diesem Weg weiterzugehen.

Prinzipien-orientierte Methode steht im Vordergrund

Methodisch soll das Projekt „prinzipienbasiert“ angegangen werden. Das beruht auf dem Gedanken, dass es sich lohnen könnte, die Grundwertungen, also gleichsam die Eckpfeiler des Insolvenzanfechtungsrechts herauszuarbeiten und aufzuzeigen, wie man mit ihrer Hilfe de lege lata bestehende Regelungen bewerten und de lege ferenda optimale Regelungen erarbeiten und dabei eine prinzipien-orientierte Methode auch für die Harmonisierung von Rechtsgebieten verwenden kann. Dieser Ansatz hat sich für das internationale Insolvenzrecht als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Deshalb soll jetzt auch das Harmonisierungsprojekt prinzipienorientiert angelegt werden.

Hinweis | Der Plan ist, nicht von dem derzeitigen Normenbestand auszugehen, sondern zunächst die Grundprinzipien des Insolvenzanfechtungsrechts herauszuarbeiten und dann zu fragen, welche Lösungen von diesen Prinzipien gestützt werden und welche nicht.

Dazu sollen in einem ersten Schritt die das Insolvenzanfechtungsrecht tragenden Prinzipien herausgearbeitet werden, und zwar nicht nur für das deutsche Recht, sondern möglichst für alle nationalen Insolvenzrechte der Europäischen Union. Folglich müssen zuerst die nationalen Insolvenzgesetze, die Materialien dazu sowie einschlägige Rechtsprechung und Literatur ausgewertet werden. Es besteht die im Rahmen dieses Projekts zu überprüfende Vermutung, dass sich solche Prinzipien benennen lassen (etwa die Prinzipien der Gläubigergleichbehandlung und der optimalen Masseverwertung einerseits und das Vertrauensschutzprinzip andererseits) und dass die nationalen Anfechtungsrechte bei aller Abweichung im Detail durchweg auf denselben Prinzipien beruhen. In einem zweiten Schritt soll versucht werden, die Punkte herauszuarbeiten, die bei prinzipien-orientierter Betrachtung in einem die beteiligten Interessen angemessen zum Ausgleich bringenden Insolvenzanfechtungsrecht vernünftigerweise zu regeln sind (und zwar ganz unabhängig davon, ob sie schon in irgendeinem nationalen Recht geregelt sind). In einem dritten Schritt soll dann auf dieser Basis ein in der EU konsensfähiger Regelungsvorschlag entwickelt werden.

Zum Schluss | Die Mitglieder der Arbeitsgruppe wollen ihre Ergebnisse auf mehreren Konferenzen vorstellen und diskutieren. Eine erste hat im Mai 2019 in Amsterdam stattgefunden, wo der Forschungsansatz und der Fragenkatalog ausführlich beraten wurden. Zwei weitere sind für die Diskussion der Länderberichte und schließlich des Harmonisierungsvorschlags vorgesehen. Das Projekt ist auf zwei Jahre angelegt, der Harmonisierungsvorschlag soll im Frühjahr 2021 vorgelegt werden. Finanziell unterstützt wird das Vorhaben durch das wirtschaftsrechtliche Zentrum der Radboud Universität Nijmegen sowie durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.