Richtlinienvorschlag der EU-Kommission zu einem neuen Insolvenzverfahren für den unteren Mittelstand
Die EU-Kommission hat am 07.12.2022 den Richtlinienvorschlag COM(2022) 702 des Europäischen Parlaments und des Rats „zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts“ (RL-V) veröffentlicht. Gegenstand sind vor allem Regelungen zum Anfechtungsrecht, einem Pre Pack-Verfahren zum Unternehmensverkauf vor oder direkt nach Insolvenzeröffnung und die Einführung eines verwalterlosen Insolvenzverfahrens für Kleinstunternehmen, das nachfolgend skizziert wird.
Keine europäische Gesetzgebungskompetenz für das Insolvenzrecht
Nicht zuletzt aus Sicht eines rechtsstaatlichen Demokratieverständnisses heraus wird die fehlende Gesetzgebungskompetenz der EU-Kommission für das Insolvenzrecht immer wieder thematisiert. Klar und deutlich positioniert sich derzeit neben der WKO Wirtschaftskammer Österreich (Stellungnahme v. 30.01.2023 zu COM(2022) 702, S. 2 f.) die Deutsche Kreditwirtschaft in ihrer Stellungnahme v. 27.02.2023 zu COM(2022) 702:
Vor allem hinsichtlich der Regelungen zu Titel VI zur Liquidation zahlungsunfähiger Kleinstunternehmen „zeigt sich besonders deutlich die […] fehlende Gesetzgebungskompetenz der Europäischen Kommission: Denn es ist offensichtlich, dass diese Sonderregelungen für Kleinstunternehmen in keinster Weise geeignet sind, die angestrebte Kapitalmarktunion zu fördern.“
Die Wirtschaftskammer Österreich (Stellungnahme, aaO) in fast schon amüsanter Nachdrücklichkeit:
„Schon formal fällt auf, dass die Union wieder einmal einen Rechtsakt anstrebt, für den sie zumindest teilweise nicht zuständig ist. Denn das jeweilige Verfahrensrecht, einschließlich des Insolvenzrechts, fällt in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Bedauerlicherweise versucht die Kommission wieder einmal, diese Tatsache zu ignorieren.“
„Formal stützt sich der Richtlinienvorschlag auf Artikel 114 AEUV. Die Tatsache, dass unterschiedliche Insolvenzregeln den freien Kapitalverkehr im Binnenmarkt behindern können (darüber besteht kein Konsens), ist keine Besonderheit dieser Regeln. Die Auffassung, dass diese Unterschiede erhebliche Hindernisse darstellen, wird nicht geteilt.“
„Der von der Kommission gewählte Ansatz würde – schlüssig weitergedacht – bedeuten, dass nicht nur das Insolvenzrecht (als Querschnittsmaterie des Zivilrechts), sondern (mindestens) das gesamte Zivilrecht harmonisiert werden müsste.“
„Kleinstunternehmen werden kaum ein attraktives Ziel für grenzüberschreitende Investoren sein, jedenfalls nicht in einem Ausmaß, das ein Tätigwerden der Kommission in der geplanten Weise rechtfertigen würde.“
Der untere Mittelstand im Zentrum des Richtlinienvorschlags
Die Angaben, welche Unternehmen vom Richtlinienvorschlag Titel VI zur Liquidation zahlungsunfähiger Kleinstunternehmen betroffen sind, schwanken zwischen 80 % (Stellungnahme BAKinso zu COM(2022) 702 v. 24.02.2023, S. 17) und mehr als 90 % (Stellungnahme NIVD zu COM(2022) 702 v. 28.02.2023, S. 2). In Europa sind nach vorliegenden Daten diese Unternehmensstrukturen in der Verteilung in „unteren“ und „oberen“ Mittelstand durchgehend ähnlich (Stellungnahme Die Deutsche Kreditwirtschaft, aaO, S. 10).
Kernpunkte des Liquidationsverfahrens für Kleinstunternehmen nach Titel VI von COM(2022) 702
Die geplanten Vorschriften des Liquidationsverfahrens für Kleinstunternehmen finden sich in Titel VI von COM(2022) 723 in den Artikeln 38 bis 57 RL-V. Die Eckpunkte lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Regelungen des RL-V zu Titel VI | Auswirkungen |
Der Anwendungsbereich erfasst Kleinstunternehmen juristischer und natürlicher Personen gemäß Art. 2 j) RL-V i. V. m. Art. 2 Nr. 3 Kommissionsempfehlung v. 06.05.2003/361/EC: „Innerhalb der Kategorie der KMU wird ein Kleinstunternehmen als ein Unternehmen definiert, das weniger als 10 Personen beschäftigt und dessen Jahresumsatz bzw. Jahresbilanz 2 Mio. EUR nicht überschreitet.“ | Wie aufgeführt betrifft dies 80 bis 90 % der europäischen Unternehmen. Es wird bemessen an der Anzahl der betroffenen Unternehmen also ein neues Regelverfahren entworfen. |
Art. 38 Abs. 2 RL-V formuliert als Zugang den Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit (nicht: Überschuldung) und überlässt den Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung einen weiten Spielraum. | Der weite Spielraum steht dem offiziellen Kommissionsziel der Harmonisierung zwecks Kapitalmarktunion entgegen. Mangels Regelung zur Überschuldung (für juristische Personen) droht deren Abschaffung und damit der Verlust von Gläubigerschutz. |
Nach Art. 42 Abs. 1 und 41 Abs. 7 RL-V ist zwingend spätestens zwei Wochen nach dem (Schuldner- oder Gläubiger-) Antrag über die Verfahrenseröffnung zu entscheiden. Abgelehnt werden kann der Antrag nur aus den Gründen: kein Kleinstunternehmen, keine Zahlungsunfähigkeit, keine Zuständigkeit. | Nach diesem Modell wird es im neuen Regelverfahren keine Insolvenzgeldvorfinanzierung mehr geben, keinen vorläufigen Verwalter und keine Eröffnungsphase, in der eine Restrukturierung vorbereitet werden kann oder überhaupt Informationen ermittelt werden könnten. |
Gemäß Art. 39 und 43 RL-V führt der Schuldner das Verfahren grundsätzlich in Eigenverwaltung ohne Sachwalter/Insolvenzverwalter, es sei denn, der Schuldner oder Gläubiger beantragen dies, vorausgesetzt die Kosten sind aus der Masse gedeckt oder werden vom Gläubiger übernommen. | Die Bestellung eines Verwalters soll gemäß RL-V zum Ausnahmefall werden. Die Gerichte müssen teilweise die Verwalteraufgaben übernehmen. Beratung im Vorfeld und im Verfahren werden notwendig. Wechsel zum Verwalterverfahren sind zudem häufig absehbar. Folglich werden die Verfahren teurer und langwieriger. Öffentlich-rechtliche Pflichten werden nicht mehr erfüllt werden, wie Steuererklärungen und vor allem Insolvenzgeldbescheinigungen. Die Arbeitnehmer werden die Hauptgruppe sein, die von diesen Verfahren benachteiligt wird. |
Nach Art. 38 Abs. 3 RL-V ist das Verfahren zwingend zu eröffnen, auch wenn die Kosten nicht aus der Masse oder durch einen Gläubiger gedeckt sind. | Es gibt keine Abweisung mangels Masse mehr. Das Verfahren ist dann auf Staatskosten, auch bei juristischen Personen, zu eröffnen. |
Gemäß Art. 47 a ist die Verfolgung und Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen nicht zwingend, sondern liegt im Ermessen der Gläubiger oder ggf. des Verwalters. | In der Regel wird – allein schon mangels Ermittlung im Vorfeld – keine Insolvenzanfechtung mehr stattfinden. Finanzämter, Family & Friends werden davon profitieren. |
Nach Art. 46 RL-V gelten die Insolvenzforderungen als angemeldet, wenn sie der Schuldner in seinen Verzeichnissen angab. Zudem können Gläubiger Forderungen binnen 30 Tagen nach Eröffnung anmelden. Die Feststellung erfolgt ohne Weiteres nach Fristablauf, wenn kein anderer Gläubiger Einwände erhebt. | Eine Tabellenprüfung, wie bislang durch die Verwalter vorgenommen, entfällt. Family & Friends werden davon profitieren. Sofern Gläubiger von dem Verfahren wissen, können sie anmelden, falls der Schuldner sie vergessen hat. |
Die Verwertung der Insolvenzmasse, inklusive Unternehmensverkauf (asset deal/übertragende Sanierung), erfolgt gemäß Art. 50 ff. RL-V vollständig über eine elektronische Auktion. | Wer keine Information über das Verfahren hat, ist ausgeschlossen; anderes als im klassischen M&A-Prozess, in dem potentielle Interessenten gezielt angesprochen werden. |
Der reale Fall der Praxis
Was ist die Realität jener kleinen Insolvenzverfahren? Die Stellungnahme des BAKinso (aaO, S. 8) fasst dies prägnant zusammen:
„Bei den Unternehmens-Kleinstverfahren verzeichnen die Insolvenzgerichte die Insolvenzverschleppung trotz strafbewehrter Antragspflicht (§ 15a InsO) nach wie vor als Regelfall. Diese Verfahren werden regelhaft durch Gläubigerantrag institutioneller Gläubiger eingeleitet. Die jeweiligen Geschäftsleiter sind nicht kooperationsbereit, nicht auskunftswillig (§§ 20 Abs. 1 S. 2, 97 Abs. 1 InsO) und die Eröffnungsverfahren gestalten sich häufig als langwierige Ermittlungsverfahren mit – dann jeweils gestufter – Anwendung insolvenzgerichtlicher Zwangsmittel vom Vorführbefehl über den Haftbefehl, von der Postsperre bis zum Durchsuchungsbeschluss und Zwangsabfragen nach § 98 Abs. 1a InsO, zwischenzeitlichen Antragserledigungen wegen Teilzahlungen und kurze Zeit später neuer Antragstellung durch andere Gläubiger, und dem ,An- und Abschalten‘ vorläufiger Insolvenzverwaltungen.“
Diese Verfahren sollen also nach der Vorstellung der EU-Kommission als Eigenverwaltungsverfahren geführt werden, in denen nicht einmal mehr ein Sachwalter bestellt wird?
Verbandsstellungnahmen zu COM(2022) 702
Verbandsstellungnahmen wie die der Deutschen Kreditwirtschaft oder des VID Verband Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (Stellungnahme v. 09.03.2023, S. 75-142) positionieren sich mehrheitlich in seltener Grundsätzlichkeit gegen die Einführung eines verwalterlosen Liquidationsverfahrens für Kleinstunternehmen nach Titel VI von COM(2022) 702.
Fazit | Die zuständigen Interessenverbände werden versuchen, die Umsetzung des Richtlinienvorschlags COM(2022) 702 in der aktuellen Fassung zu verhindern, zumindest aber die Hinzufügung großzügiger Öffnungsklauseln, vor allem im Bereich der Liquidation zahlungsunfähiger Kleinstunternehmen, zu erreichen.