European Insolvency & Restructuring Ausländisches Insolvenzrecht
Stephan Madaus

Rechtsunsicherheit als Restrukturierungshindernis – Wettbewerbsnachteile der neuen Restrukturierungsoptionen in Deutschland und den Niederlanden gegenüber England

Seit dem Jahresbeginn ist das Vereinigte Königreich vorerst aus dem Anwendungsbereich des EU-Rechts ausgeschieden. Für die Restrukturierungs- und Insolvenzlandschaft war dies ein Abschied ohne Ersatzlösung. EuInsVO und EuGVVO sind nicht mehr anwendbar. Das Vereinigte Königreich ist ein Drittstaat. „Härter“ hätte der Brexit nicht ausfallen können.

Exakt im selben Moment, also zum 1. Januar 2021, gelang es Deutschland wie auch den Niederlanden, neue vorinsolvenzliche Restrukturierungshilfen in Kraft zu setzen, die vor allem auch den Unternehmen helfen sollten, die bislang eher englische Schemes of Arrangement als Goldstandard betrachteten und nicht selten nutzten. Hierzu wurde nicht schlicht ein Vergleichsverfahren geschaffen oder das englische Scheme-Verfahren kopiert. Beide Rechtsordnungen etablierten vielmehr moderne modulare gerichtliche Hilfen, die dem Schuldner (und seinem Sanierungsberater) eine maßgeschneiderte Auswahl an Hilfsinstrumenten eröffnet.

Das Ausbleiben der Restrukturierungswelle 2021

Wer nun allerdings erwartet (und vielleicht auch gehofft) hatte, dass der Restrukturierungsmarkt auf diese neuen heimischen Optionen gewartet hat und sie nach deren Verfügbarkeit unmittelbar, ja enthusiastisch) ausprobieren wird, zumal die Pandemiemaßnahmen inzwischen zahlreiche Restrukturierungskandidaten erzeugen und den Größeren unter ihnen zeitgleich der Weg nach London wegzubrechen schien, sah sich getäuscht. Deutsche StaRUG-Verfahren sind bislang nicht bekannt (es soll eines in Baden-Württemberg geben). Und auch das holländische „WHOA-Scheme“ ist bisher nur durch lokale Unternehmen genutzt worden. Sicher, es mag nach acht Wochen noch etwas früh für eine finale Einschätzung sein – eine Welle sieht jedenfalls anders aus.

Rechtsunsicherheit als maßgeblicher Faktor

Der maßgebliche Umstand für diese Zurückhaltung ist aus meiner Sicht interessanterweise sowohl im Restrukturierungsmarkt diesseits als auch jenseits des Kanals präsent: Rechtsunsicherheit. Wer gemeint hat, aus dem harten Brexit und der damit eintretenden Rechtsunsicherheit über Fragen der Zuständigkeit englischer Gerichte und der Anerkennung englischer Restrukturierungspläne entsteht dem Kontinent ein Wettbewerbsvorteil, den Deutschland und die Niederlande mit ihren neuen Verfahren passgenau nutzen können, muss erkennen, dass eben aus diesen neuen Verfahrensoptionen nahezu identische, ja sogar höhere Verfahrensrisiken erwachsen.

Diese Rechtsunsicherheit speist sich zum einen aus dem Umstand, dass unklar ist, wie die deutschen und niederländischen Gerichte mit dem neuen Recht umgehen werden. Im Dschungel neuer Paragrafen und Verfahrensoptionen, die gerade der deutsche Gesetzgeber geschaffen hat, fehlt noch der Pfand der durch erste Präzedenzfälle geschlagen wird und sich dann langsam zu Straßen und Autobahnen etabliert. In diesem Punkt behält London trotz des Brexit klar seinen Wettbewerbsvorteil, kann es doch auf etablierte Autobahnen und versierte, wirtschaftlich verständige Verkehrsteilnehmer mit geringer Unfallquote verweisen.

Dieser Vorteil wird nun interessanterweise auch nicht einmal dadurch getrübt, dass auch dem englischen Recht im Sommer 2020 ein neues Tool hinzugefügt wurde – der Restructuring Plan (S. 901C Companies Act 2006). Dies liegt an zwei Umständen. Zum einen hat der Gesetzgeber ihn sehr eng an die etablierten Regeln des Scheme of Arrangement angelehnt, sodass es kaum Berührungsängste oder Unsicherheiten gab. 

Vor allem aber hat die Praxis bereits nach sechs Monaten erkannt, dass auch das englische Recht in der Dualität von Scheme of Arrangement und Restructuring Plan die Innovationen des niederländischen und deutschen Rechts imitieren kann, aus denen man sich diesseits des Kanals gerade bei grenzüberschreitenden Restrukturierungen von Konzernfinanzierungen einen Wettbewerbsvorteil erhoffte. 

Das deutsche wie niederländische Restrukturierungsrecht sieht identische Restrukturierungsinstrumente einmal in öffentlichen und einmal in nicht-öffentlichen Verfahren vor, um in grenzüberschreitenden Fällen dem Restrukturierer die Wahl zu lassen, ob Zuständigkeits- und Anerkennungsfragen über das insolvenzrechtliche Regelungsregime (EuInsVO) oder das nicht-insolvenzliche (EuGVVO) beantwortet werden sollen. Gegenüber Drittstaaten eröffnet sich die Wahl zwischen Regelungen des Insolvenzrechts (idealerweise in Umsetzung des UNCITRAL Modellgesetzes wie in England, den Vereinigten Staaten oder Singapur) und des internationalen Zivilprozessrechts (Lugano Übereinkommen, Haager Übereinkommen). Das englische Recht bietet nun seit der Gategroup-Entscheidung des High Court (Gategroup Guarantee Ltd, Re [2021] EWHC 304 (Ch) Zacaroli J) dem Restrukturierer faktisch ebenfalls diese Wahlmöglichkeit – wenngleich in jeweils öffentlichen Verfahren. Im Angesicht einer unpassenden Rechtswahlklausel zugunsten der Schweiz war mithin nicht das Scheme of Arrangement, sondern der Restructuring Plan das Mittel der Wahl, überschreibt das so gewählte insolvenzrechtliche Zuständigkeitsregime mit seinem ausschließlichen COMI-Gerichtsstand doch derartige Vereinbarungen. 

Keine EuInsVO-Anwendung bis Sommer 2022

Mit der Wahl zwischen öffentlichen und nicht-öffentlichen StaRUG-Verfahren sind solche Effekte auch in Deutschland oder den Niederlanden möglich. Allerdings wird die Nutzung der insolvenzrechtlichen Option derzeit noch dadurch vereitelt, dass die neuen deutschen oder niederländischen Verfahren noch nicht im Anhang A der EuInsVO zu finden sind und die Verordnung sie schon aus diesem formalen Grund noch nicht erfasst. Öffentliche „Dutch Schemes“ müssen so ihr grenzüberschreitendes Regelungsregime jenseits der EuInsVO finden – im autonomen Recht der Anerkennungsrechtsordnungen (wie etwa der Schweiz, aber auch Deutschland). Für deutsche StaRUG-Schemes ist nicht einmal dies möglich, da der deutsche Gesetzgeber vorsichtshalber gleich das Inkrafttreten der öffentlichen Verfahrensoption insgesamt auf den 17.7.2022 verschoben hat, wohl um bis dahin eben diese Eintragung in den Anhang A der EuInsVO zu erreichen. Dass man damit die Wirkung im Ausland in der Zwischenzeit mit verschenkt, scheint übersehen worden zu sein. Dieser Befund passt ins Gesamtbild einer eher stiefmütterlichen Behandlung der grenzüberschreitenden Wirkungen im Prozess der Richtlinienentstehung und –umsetzung in Deutschland. Im Fokus lag allein die Inlandswirkung.

Keine Klarheit über die Anwendbarkeit der EuGVVO für vertrauliche Verfahren

Für deutsche StaRUG-Verfahren lässt sich jedenfalls bis zum Sommer 2022 eine grenzüberschreitende Wirkung nur ohne die Werkzeuge der EuInsVO erzeugen. Nicht-öffentliche StaRUG-Verfahren werden sogar dauerhaft ohne sie auskommen müssen. Entsprechendes gilt für deren holländisches Pendant. Welches Regelungsregime bei Fällen mit grenzüberschreitenden Bezügen stattdessen gilt, ist derzeit leider eine offene Rechtsfrage. Weder in der Restrukturierungsrichtlinie noch im StaRUG existieren hierzu Regelungsansätze oder –hinweise. Die Rechtslage gleicht damit auf erschreckende Weise derjenigen des englischen Scheme of Arrangement nach dem harten Brexit: es ist schlicht ungewiss, welches Regelungsregime von den betreffenden Gerichten im Anerkennungsstaat als einschlägig erkannt werden wird.

Richtet sich der Blick naheliegend zunächst auf das Regelungsgeflecht des IZVR, so speist sich diese Unsicherheit vor allem aus der in den dortigen Rechtsquellen prominenten Bereichsausnahme für „Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren“ (vgl. Art. 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO bzw. LuganoÜ). Etwas moderner formuliert das Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen eine Bereichsausnahme für „Insolvenz, insolvenzrechtliche Vergleiche und ähnliche Angelegenheiten“ (Art. 2 Abs. 1 lit. e). Wieder scheint das englische Scheme hier geringe Unsicherheiten zu erzeugen, kann und wird es doch auch im rein gesellschaftsrechtlichen Bereich ohne jeden Insolvenzbezug verwendet. Weder finanzielle Schwierigkeiten noch eine drohende Zahlungsunfähigkeit oder eine sonst zu definierende „likelihood of insolvency“ haften diesem Instrument an. Es dient eben nicht allein der Insolvenzvermeidung. Die Anwendung der Bereichsausnahmen scheint daher bei englischen Schemes of Arrangement – im Gegensatz zum neuen englischen Restructuring Plan, der „financial difficulties“ bei der Gesellschaft verlangt – wenig plausibel. 

Für die neuen „Dutch and German Schemes“ ist dies keineswegs so klar. Sie vermeiden durch den Umstand der Nicht-Öffentlichkeit zwar zielgerichtet und bewusst die Einordnung als Insolvenzverfahren in Art. 1 Abs. 1 EuInsVO, bleiben ansonsten aber funktionell der Insolvenzvermeidung – in Deutschland sogar dem Insolvenztatbestand des § 18 InsO – verhaftet. Es bleibt daher dringend abzuwarten, ob der EuGH für die EuGVVO die Reichweite der Bereichsausnahme tatsächlich rein formal anhand der Definition in Art. 1 EuInsVO und seiner (für Annexverfahren entwickelten) „Nahtlosigkeitsdoktrin“ zwischen EuInsVO und EuGVVO bestimmt, sodass alle Verfahren, die von der EuInsVO nicht erfasst werden, der EuGVVO zufallen. Würde der EuGH hingegen die Bereichsausnahme in der EuGVVO entsprechend ihres weiten Wortlauts für einschlägig halten, so bliebe nicht-öffentlichen Verfahren sowohl die Nutzung der EuInsVO als auch der EuGVVO versagt. Grenzüberschreitende Wirkungen wären in der EU wie in Drittstaaten gleichermaßen und uneinheitlich nach dem jeweiligen bilateralen oder – im Regelfall – nationalen Recht zu bemessen.

Status quo 2021 in Deutschland: Nicht erprobtes Recht ohne prognostizierbare grenzüberschreitende Wirkung

Die Ausführungen sollten verdeutlicht haben, dass wir derzeit in Deutschland nicht nur ein gänzlich unerprobtes neues Restrukturierungsrecht vor neu zusammengestellten Restrukturierungsgerichten vorfinden. Diesem Recht fehlt auch jede vorhersehbare grenzüberschreitende Wirkung. Es ist damit nicht nur im Nachteil gegenüber Handlungsoptionen der Insolvenzordnung, deren Eigenverwaltungs- und Planoptionen zudem weiter gestärkt wurden. Es ist vor allem auch im Wettbewerb der Restrukturierungsordnungen weiter im Nachteil gegenüber England – und das trotz des Albtraums eines harten Brexits im Bereich der Zusammenarbeit in Zivilverfahren. 

Ausblick | Rechtssicherheit durch Präzedenzfälle

Eine Änderung dieser Lage wird vom Gesetzgeber kaum zu erwarten sein, zumal der europäische Gesetzgeber gefragt wäre. Idealerweise würde er die Restrukturierungsrichtlinie durch eine Restrukturierungsverordnung über die grenzüberschreitende Wirkung vorinsolvenzlicher Verfahren ergänzen. 

So bleibt nur die Hoffnung, dass sich bald in der Praxis Fälle finden, die trotz der skizzierten Nachteile den Weg in eine Restrukturierung in Deutschland oder den Niederlanden wagen und dabei vor allem die Reichweite der Bereichsausnahme in Art. 1 Abs. 2 lit. b) EuGVVO zügig durch den EuGH klären lassen. Schon das Restrukturierungsgericht darf diese Frage dem EuGH vorlegen (Art. 267 Abs. 2 AEUV). Zugleich bedarf es bei neuem Recht rechtssoziologisch erfolgreicher Vorbildverfahren, denen es gelingt, erste Pfade in den Dschungel des neuen Rechts zu schlagen und die Tauglichkeit der neuen Hilfen zu bezeugen. Rechtssicherheit würde entstehen. Erst die hieraus folgende Planungssicherheit würde es den niederländischen und deutschen „Schemes“ erlauben, endlich auch ernsthaft mit englischen Restrukturierungsverfahren in Konkurrenz zu treten.