European Insolvency & Restructuring Restrukturierung
Stephan Madaus

Der künftige Restrukturierungsmarkt ist europäisch – wie positioniert sich Deutschland?

Die Migration deutscher Unternehmen zum Zwecke der Restrukturierung ist bislang eher eine Randerscheinung. Sie wird vor allem durch die Nutzung englischer Verfahrensoptionen geprägt. Der bevorstehende Brexit wird hier einiges ändern. Zwar wird er den Zugang zu diesen Optionen nicht erschweren, da dieser dann autonom in den Händen des englischen Gesetzgebers liegt. Wohl aber wird die automatische Anerkennung englischer Verfahrensergebnisse in der EU nahezu unmöglich, wird das Vereinigte Königreich aus Sicht der EU-Rechtsanwender doch zum Drittstaat. Wer vor diesem Hintergrund meint, damit wäre die Migrationsgefahr bei Restrukturierungen für absehbare Zeit gebannt, liegt allerdings falsch, denn er übersieht die Entwicklungen im verbleibenden EU-Binnenmarkt.

Rechtsentwicklungen zu Restrukturierungsverfahren

Die Rechtsentwicklung in den meisten Mitgliedstaaten hat schon in den letzten 10 Jahren dazu geführt, dass eine Vielzahl von Restrukturierungsverfahren entstanden sind, die teils als Kollektivverfahren, teils als vorinsolvenzliche Verhandlungshilfen allein auf die Restrukturierung von Unternehmen in der Krise ausgerichtet sind. Deutschland hat diese Entwicklung bislang nur beobachtet. Ideen für die Schaffung derartiger Verfahrensoptionen spiegeln sich hierzulande nur im Schuldverschreibungsgesetz 2009 wider; in den ESUG-Reformen verkümmerten sie zu einem Schutzschirmverfahren, das lediglich den Einstieg in ein inhaltsoffenes Insolvenzverfahren erleichtert.

Die EU-Kommission hat hier seit 2014 eine neue Dynamik geschaffen und mit der Empfehlung von 2014 wie auch dem Richtlinienvorschlag von 2016 in vielen Mitgliedstaaten gesetzgeberische Initiativen im Bereich vorinsolvenzlicher Sanierungshilfen befeuert. Diese sind inzwischen vielerorts weit gediehen und dürften selbst dann umgesetzt werden, wenn die Richtlinie auf der Zielgerade noch scheitern sollte. Interessant ist dabei aus deutscher Sicht insbesondere die niederländische Initiative, die – anders etwa als die irische Examinership als konkurrierendes Modell – kein reines Insolvenz-, also Kollektiverfahren mit Ziel Sanierungsplan (Scheme) einführen will, sondern (auch) ganz nach englischem Vorbild ein echtes insolvenzunabhängiges Planverfahren (Dutch Scheme of Arrangement). Die Auswirkungen eines derartigen Verfahrens in der Nachbarschaft auf den deutschen Restrukturierungsmarkt sind dabei nicht zu unterschätzen, kann ein solches Scheme doch auch von einem deutschen Unternehmen zur Restrukturierung genutzt werden.

Vorzüge eines Schemes

Die Attraktivität eines Schemes im EU-Ausland wird dabei primär von drei Gesichtspunkten abhängen. Erstens, wie aufwendig ist der Zugang zu diesen Verfahrenshilfen? Zweitens, wie sicher ist die Bindungswirkung des Verfahrensergebnisses (des Plans) gegenüber Gläubigern im Inland? Drittens, wie attraktiv ist die begleitende Dienstleistungsinfrastruktur vor Ort?

Die Antwort auf die ersten beide Fragen wird davon abhängen, welchem Regelungsregime die neuen Verfahren durch den jeweiligen Mitgliedstaat unterstellt werden. Grundlegend ist dabei die Entscheidung für oder gegen eine Anwendung der Europäischen Insolvenzverordnung auf diese Verfahren – eine Entscheidung, die nach Art. 1 Abs. 1 EuInsVO ganz in der Entscheidungshoheit der einzelnen Mitgliedstaaten liegt, da sie selbst entscheiden dürfen, ob ein neues Verfahren in den Anhang A der Verordnung aufgenommen und so dem Regelungsregime der Verordnung unterstellt wird.

Entscheidet sich also ein Mitgliedstaat wie die Niederlande, für die Aufnahme des neuen Verfahrens in den Anhang A, so richtet sich die internationale Zuständigkeit der (holländischen) Gerichte bei ausländischen (deutschen) Unternehmen nach Art. 3 EuInsVO und damit nach dem COMI des Schuldners. Um seine internationale Zuständigkeit über eine Auslandsgesellschaft zu bejahen, muss das Gericht dabei weder den Satzungssitz der Gesellschaft noch deren Produktionsstätten im Inland finden. Insbesondere einer grenzüberschreitenden Verschmelzung zur Verlegung des Satzungssitzes bedarf es nicht. Es genügt nach der COMI-Interpretation des EuGH, dass das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass aus Sicht der Gläubiger und künftiger Geschäftspartner der Gesellschaft diese ihre Verwaltungsentscheidungen im Inland trifft.

Das Unternehmensmanagement muss also – im Moment der Antragstellung – wahrnehmbar im Inland tätig sein. Hält das Gericht (in Amsterdam) dies für gegeben und sich folglich für international zuständig (und wird diese Einschätzung aufgrund eines Rechtsmittels nach Art. 5 EuInsVO auch vom nächsthöheren Gericht geteilt), so findet nicht nur das (holländische) Verfahren über die (deutsche) Auslandsgesellschaft statt.

Entscheidend ist, dass nun auch jegliches Verfahrensergebnis, und damit vor allem auch ein nach den dortigen Anforderungen rechtmäßig zustande kommender Restrukturierungsplan, über Art. 32 EuInsVO automatisch EU-weit anzuerkennen ist. Gerichte am Satzungssitz, etwa in Deutschland, haben bei Zahlungsklagen betroffener Gläubiger gegen die Schuldnergesellschaft also einen forderungskürzenden oder -stundenden Effekt des Plans (Schemes) zu beachten, ohne ihrerseits die internationale Zuständigkeit oder die Rechtmäßigkeit des ausländischen Verfahrens überprüfen zu dürfen.

Beachte | Einzig der Ordre-Public-Einwand des Art. 33 EuInsVO erlaubt eine Zurückweisung dieser Folgen im Fall schwerwiegender Fehler, etwa einer COMI-Erschleichung durch Prozessbetrug oder einer Nichtgewährung rechtlichen Gehörs.

Reglungsregime der EuInsVO vermeiden

Die Bestimmung des COMI, und dementsprechend dessen gezielte Verlegung in Vorbereitung einer Restrukturierung im EU-Ausland, ist allerdings vorläufig weiter mit Unsicherheiten verbunden. Die Entwicklung einer gefestigten Rechtsprechung zu diesen Fragen in den relevanten Mitgliedstaaten ist derzeit allenfalls im Entstehen, oft nicht einmal ansatzweise vorhanden. Es kann sich insofern für einen Mitgliedstaat, der sich nach dem Brexit als europäisches “Restrukturierungs-Hub” etablieren will, anbieten, das Regelungsregime der EuInsVO zu vermeiden. Vorbild dieser Strategie ist der englischer Gesetzgeber, der in den letzten zehn Jahren sein Scheme of Arrangement wirksam von den Zwängen der Verordnung fern gehalten hat.

Technisch gelang dies auf zwei Wegen: Zum einen verzichtet man auf den Antrag, das betreffende Verfahren in den Anhang A der EuInsVO aufzunehmen. Dies hat wegen Art. 1 Abs. 1 letzter Satz EuInsVO zur Folge, dass die Verordnung keine Anwendung findet. Zum anderen wird man sich bemühen, das betreffende Restrukturierungsverfahren dem Gesellschaftsrecht bzw. dem Vertragsrecht zuzuordnen, es also gerade auch nicht insolventen Gesellschaften anzubieten und nicht in den Insolvenzgesetzen zu normieren, sodass auch sachlich die Verordnung nicht einschlägig ist (vgl. Erwägungsgrund 16 Satz 2 – Gesellschaftsrecht – und Satz 3 – reine Entschuldung).

Anwendung der EuGVVO

Lässt man auf diesem Weg die EuInsVO hinter sich, so bleibt die Frage zu beantworten, auf welcher rechtlichen Grundlage die Restrukturierung nun grenzüberschreitend wirken soll. In Betracht kommt dabei vor allem die EuGVVO (in Fassung der Brüssel Ia-VO), die für grenzüberschreitende Zivilprozesse neben der internationalen Zuständigkeit vor allem auch die automatische Anerkennung aller Verfahrensergebnisse in der EU normiert. Da diese Verordnung gem. ihres Art. 1 Abs. 2 b) nicht für “Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren” gilt, wird insofern wieder relevant, ob das betreffende Restrukturierungsverfahren als ein solches Verfahren anzusehen ist. Da diese Begriffe autonom europarechtlich auszulegen sind, wird hier wieder die Definition von Insolvenzverfahren in Art. 1 Abs. 1 der EuInsVO relevant, wird man doch annehmen dürfen, dass der europäische Gesetzgeber hier den sachlichen Anwendungsbereich solcher Verfahren definiert und damit zugleich den sachlichen Anwendungsbereich zur EuGVVO negativ abgrenzt (vgl. Erwägungsgrund 7 Satz 2). Ein Scheme-Verfahren, das hinreichend im Gesellschafts- oder Vertragsrecht verankert ist, wird insofern nicht unter Art. 1 Abs. 1 EuInsVO und damit in den Anwendungsbereich der EuGVVO fallen.

Ist die EuGVVO anwendbar, so bietet deren Regelung zur Mehrheit von Beklagten in Art. 8 Nr. 1 Gestaltungsspielraum für den nationalen Gesetzgeber. Nach bewährtem englischen Vorbild kann im Fall der Beteiligung auch nur eines “Beklagten” aus dem Inland, also eines am Restrukturierungsverfahren Beteiligten mit Inlandssitz, das Verfahren hier stattfinden, wenn eine gemeinsame Entscheidung geboten erscheint. Letzteres Kriterium bietet ggf. Anknüpfungspunkte für nationale Konkretisierungen der internationalen Zuständigkeit, etwa in Form einer “sufficient connection” nach englischem Vorbild. Notwendig ist dies aber angesichts des Inlandssitzes eines Beteiligten nicht.

Die internationale Zuständigkeit für außerinsolvenzliche Restrukturierungsverfahren kann sich damit ohne jede Relevanz des Schuldner-COMI und im Extremfall allein aus der Verfahrensbeteiligung von Inländern ergeben. Die Schuldner(berater) haben die Wahl. Insbesondere der niederländische Gesetzgebungsvorschlag würde ein auf diese Weise zugängliches Scheme hervorbringen. Es wäre dabei nicht nur leicht zugänglich, sondern als EU-Zivilprozess auch automatisch europaweit anzuerkennen. Dabei kann im Ergebnis offen bleiben, ob die automatische Anerkennung eines Dutch Scheme rechtlich auf Art. 36 (wegen der gerichtlichen Bestätigungsentscheidung) oder Art. 59 (gerichtlicher Vergleich) basiert.

Neue Dienstleistungsinfrastruktur unverzichtbar

Der Erfolg neuer Restrukturierungsverfahren wird allerdings nicht nur von neuen rechtlichen Regelungen, sondern auch von der begleitenden Dienstleistungsinfrastruktur abhängen. Es bedarf kompetenter, effizient verhandelnder Gerichte mit sachkundigen und vertrauenswürdigen Richterinnen und Richtern ebenso wie einer fachlich versierten lokalen Beratungsbranche mit angemessener Kostenstruktur. Betrachtet man unter diesem Aspekt die niederländischen Nachbarn, so fällt nicht nur auf, dass die Restrukturierungsverfahren ausländischer Schuldner sämtlichst vor einer englischsprachigen Kammer in Amsterdam verhandelt werden. Der Weg nach Amsterdam ist auch geographisch kurz und führt in eine Community, die neben Englisch oft auch Deutsch spricht und in ihrer Rechtskultur der heimischen deutschen sehr vertraut ist. Die Entwicklung der Beraterkosten bleibt dabei abzuwarten.

Fazit | Das Resümee dieser Gedankenspiele ist klar. Der künftige Restrukturierungsmarkt wird europäisch, wobei insbesondere Deutschlands Nachbar im Nordwesten aktiv darum bemüht ist, diesen Markt zu bestimmen. Die deutschen Entscheidungsträger sind demgegenüber ganz mit dem heimischen Markt befasst. Das ESUG soll allenfalls behutsam und im Einklang mit etwaigen Vorgaben aus einer Restrukturierungsrichtlinie fortentwickelt werden. Vorinsolvenzliche Verfahrensoptionen bleiben dem Primat der Gläubigerbefriedigung unterworfen; Paradigmenwechsel seien zu vermeiden. Gleichzeitig schwebt über allem die Skepsis, ob Insolvenzgerichte in der Fläche diese Verfahrensoptionen überhaupt kompetent umsetzen können.

Ambitionen, ein englischsprachiges Gericht für ausländische Schuldner zu etablieren und zugleich Verfahren zu entwickeln, die es attraktiv erscheinen lassen, als ausländische Gesellschaft für eine Restrukturierung nach Deutschland zu kommen, sind nicht einmal ansatzweise vorhanden. Dies bleibt den global denkenden Playern in London, New York, Singapur – und nun Amsterdam und Dublin überlassen.

Wieder wird – wie vor dem ESUG und dem MoMiG – wohl erst eine wahrnehmbare Migration des deutschen Mittelstandes in ausländische Verfahren den deutschen Wettbewerbsgeist wecken. Ob einmal etablierte Pfade in ausländische Restrukturierungsverfahren dann noch umgeleitet werden können, bliebe abzuwarten.