Global Taxes Doppelbesteuerungsabkommen
Stephan Kudert

Abschaffung von abkommensrechtlichen Grenzgängerregeln –
Plädoyer für einen kleinen Beitrag zur Vereinfachung des internationalen Steuerrechts

Bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten von Arbeitnehmern in DBA-Staaten gilt abkommensrechtlich grundsätzlich das Tätigkeitsortprinzip; d.h. das Entgelt soll i.d.R. in dem Staat besteuert werden, in dem die Tätigkeit physisch ausgeübt wird. Enthält das DBA jedoch eine Grenzgängerregel, wird, sofern diese greift, das Tätigkeitsortprinzip durchbrochen und dem Ansässigkeitsstaat das alleinige Besteuerungsrecht zugewiesen.

Grenzgängerregeln sind politisch motivierte Systembrüche, die manche (nicht nur von Deutschland abgeschlossene) Abkommen enthalten, um das Besteuerungsrecht an den Einkünften des Arbeitnehmers dem Ansässigkeitsstaat zuzuordnen. Sie sind historisch erklärbar, weil die Regelungen vor dem EuGH-Urteil zum sogenannten Schumackerfall entstanden sind (EuGH 14.02.1995, C-279/93), das die Einführung der §§ 1 Abs. 3 und § 1a EStG zur Folge hatte.

Grenzgängerregeln können jedoch bei Dreieckssachverhalten, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen, zu weißen Einkünften führen.

Fall 1 – beschränkte Steuerpflicht in Deutschland

Piotr lebt mit seiner Familie in Breslau (Polen), wo er einen Wohnsitz hat und sich sein Lebensmittelpunkt befindet. Er arbeitet in Bad Reichenhall (Deutschland), sehr nahe der österreichischen Grenze. Da er nicht arbeitstäglich zwischen Breslau und Bad Reichenhall pendeln kann, hat er in Salzburg eine kleine Zweitwohnung gemietet, die ihm einen Wohnsitz in Österreich vermittelt. Salzburg liegt ebenfalls unmittelbar an der deutschen Grenze, nur wenige Kilometer von Bad Reichenhall entfernt.

Der Steuerpflichtige ist sowohl in Polen als auch in Österreich unbeschränkt sowie in Deutschland mit seinen inländischen Einkünften beschränkt steuerpflichtig. Damit liegt nach nationalem Steuerrecht zunächst eine Dreifachbesteuerung vor.

Hinweis | Ein DBA soll die Steuerpflichtigen vor einer Doppel- bzw. Mehrfachbesteuerung schützen, sofern er in mindestens einem der beiden Vertragsstaaten ansässig ist. Dies gilt für alle drei DBA. Daher kann er sich bei jeder Finanzverwaltung auf das oder die für ihn anwendbare(n) DBA berufen.

Da Piotr in Polen ansässig ist und in Deutschland arbeitet, wendet er gegenüber der polnischen Finanzverwaltung das DBA D/PL an. Nach Art. 15 Abs. 1 DBA D/PL greift das Tätigkeitsortprinzip. Deutschland hat das Besteuerungsrecht und Polen stellt die Einkünfte unter Progressionsvorbehalt frei (Art. 24 Abs. 2 lit. a DBA D/PL). Er kann gegenüber der deutschen Finanzverwaltung das DBA D/A anwenden, weil er in Österreich ebenfalls ansässig ist. Durch die Grenzgängerregel in Art. 15 Abs. 6 DBA D/A wird das Tätigkeitsortprinzip des Art. 15 Abs. 1 DBA D/A durchbrochen und dem Ansässigkeitsstaat Österreich das alleinige Besteuerungsrecht zugewiesen. Er kann sich gegenüber der österreichischen Finanzverwaltung aber auch auf das DBA A/PL berufen, weil er in beiden Staaten ansässig ist und beide Staaten die Einkünfte aufgrund der unbeschränkten Steuerpflicht besteuern wollen. Es greift die Tie Breaker Regel des DBA A/PL und aufgrund seines Lebensmittelpunkts gilt Polen als Ansässigkeitsstaat (Art. 4 Abs. 2 lit. a DBA D/PL). Nach Art. 15 Abs. 1 DBA A/PL wird, da er nicht in Österreich arbeitet, allein Polen das Besteuerungsrecht zugewiesen.

Scheinbar skurriles Ergebnis

In Polen beruft sich der Steuerpflichtige auf das DBA D/PL. Polen kann damit nicht besteuern. In Deutschland beruft er sich auf das DBA D/A. Es gilt die Grenzgängerregel und Deutschland kann nicht besteuern. Und gegenüber Österreich beruft er sich auf das DBA A/PL, wonach Polen das alleinige Besteuerungsrecht zusteht und Österreich nicht besteuern kann.

Hinweis | Dieses Ergebnis entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des BFH. Der Steuerpflichtige kann in einem Vertragsstaat das für ihn jeweils günstigste DBA für sich in Anspruch nehmen (Meistbegünstigungsgrundsatz). Vgl. dazu bereits BFH, Beschluss v. 4.11.2014, I R 19/13.

Die Subject-to-tax-Klausel in Art. 15 Abs. 4 DBA D/A greift nicht, weil die Einkünfte in Deutschland zwar nicht besteuert, aber im Rahmen der Veranlagung „steuerlich erfasst“ (vgl. Tz. 7 Protokoll zum DBA D/A) werden. § 50d Abs. 8 und 9 EStG greifen ebenfalls nicht; ihre Anwendung würde bereits scheitern, weil beide Normen die unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland voraussetzen.

Dieses für die beteiligten Finanzverwaltungen missliche Ergebnis sollte durch eine Konsultationsvereinbarung zwischen der deutschen und österreichischen Finanzverwaltung korrigiert werden (vgl. BMF 18.4.2019, IV B 3 ‒ S 1301-AUT/07/10015-02), in der beide Vertragsstaaten vereinbart haben, dass die Grenzgängerregel nicht greifen soll, wenn der Wohnsitz in der Grenzregion lediglich ein Zweitwohnsitz ist. Da diese Vereinbarung aber offensichtlich contra legem ist und selbst keinen Gesetzescharakter hat, würde sie in einem finanzgerichtlichen Verfahren keinen Bestand haben (instruktiv: BFH, Beschluss v. 4.11.2014, I R 19/13, mit Anm. von Wassermeyer, IStR 2015, 142).

Ergebnis | In allen drei Staaten entstehen weiße Einkünfte.

Fall 2 – unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland

In Fall 2 ist der Protagonist Dieter in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig. Er lebt mit seiner Familie in Berlin. Dort befinden sich ein Wohnsitz und sein Lebensmittelpunkt. Dieter arbeitet in der Schweiz, sehr nahe der französischen Grenze. Da er nicht arbeitstäglich zwischen Berlin und seinem Arbeitsort in der Schweiz pendeln kann, hat er in Frankreich, unmittelbar an der Grenze zur Schweiz und in unmittelbarer Nähe zum Arbeitsplatz eine kleine Zweitwohnung gemietet, die ihm einen Wohnsitz in Frankreich vermittelt.

Dieter ist sowohl in Frankreich als auch in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig. Es gilt in beiden Staaten das Welteinkommensprinzip. In der Schweiz ist er mit seinen dort bezogenen inländischen Einkünften beschränkt steuerpflichtig. Damit liegt nach nationalem Recht zunächst eine Dreifachbelastung vor.

Dieter wird den Abkommensschutz in Anspruch nehmen. Da er in Deutschland ansässig ist und in der Schweiz arbeitet, wendet er das DBA D/CH an. Nach Art. 15 Abs. 1 DBA D/CH greift das Tätigkeitsortprinzip. Die Schweiz hat das Besteuerungsrecht und Deutschland stellt die Einkünfte unter Progressionsvorbehalt frei, da die Arbeit in der Schweiz ausgeübt wird (Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 lit. d DBA D/CH). Er kann auch das DBA F/CH anwenden, weil er in Frankreich ebenfalls ansässig ist. Durch die Grenzgängerregel im DBA F/CH wird das Tätigkeitsortprinzip durchbrochen und Frankreich das alleinige Besteuerungsrecht zugewiesen (Art. 17 Abs. 4 DBA F/CH i. V. m dem Zusatzabkommen vom 11.4.1983). Und er kann sich auch auf das DBA D/F berufen, weil er in beiden Staaten ansässig ist und beide Staaten die Einkünfte aufgrund der unbeschränkten Steuerpflicht besteuern wollen. Es greift die Tie Breaker Regel des DBA D/F und aufgrund seines Lebensmittelpunkts gilt Deutschland als Ansässigkeitsstaat. Da er nicht in Frankreich arbeitet, wird nach dem DBA D/F allein Deutschland das Besteuerungsrecht zugewiesen. Mangels einer Tätigkeitausübung in Deutschland und Frankreich – denn Dieter arbeitet in der Schweiz – greift nicht Art. 13 Abs. 1 DBA D/F, sondern Art. 18 DBA D/F.

Wieder ein scheinbar skurriles Ergebnis

Auch der in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtige Dieter kann sich bei jeder Finanzverwaltung auf das für ihn jeweils günstigste DBA berufen. In Deutschland beruft er sich auf das DBA D/CH. Nach dem DBA D/CH gilt das Tätigkeitsortprinzip und
Deutschland kann nicht besteuern. In der Schweiz beruft er sich auf das DBA F/CH. Demnach gilt die Grenzgängerregel und das alleinige Besteuerungsrecht fällt an Frankreich zurück.
Die Schweiz kann also nicht besteuern. Und in Frankreich beruft er sich auf das DBA D/F. Deutschland hat das alleinige Besteuerungsrecht und Frankreich kann nicht besteuern, weil abkommensrechtlich keine französischen Einkünfte vorliegen. Frankreich kann auch nicht besteuern.

Hinweis | Auch dieses Ergebnis entspricht der aktuellen Rechtsprechung des BFH, 01.06.2022, I R 30/18. Der Steuerpflichtige kann in jedem Vertragsstaat das für ihn jeweils günstigste DBA für sich in Anspruch nehmen (Meistbegünstigungsgrundsatz).

§ 50d Abs. 8 EStG greift nicht, weil die Einkünfte in der Schweiz (und Frankreich) ordnungsgemäß deklariert wurden. § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 1 EStG greift ebenfalls nicht, da kein abkommensrechtlicher Qualifikationskonflikt vorliegt. Weder die Schweiz noch Frankreich wenden aus deutscher Perspektive falsche Verteilungsnormen an. § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 2 EStG greift auch nicht. Hierfür müssten die Einkünfte des Dieter nach nationalen Schweizer Normen aufgrund einer Besserstellung im Vergleich zu dort unbeschränkt Steuerpflichtigen begünstigt werden. Dies ist aber nicht der Fall. Der Vorteil ergibt sich vielmehr aus der Grenzgängerregel im DBA F/CH.

Ergebnis | Damit entstehen auch hier in allen drei Staaten weiße Einkünfte.

Ursache und Problemlösungen

Die Ursache für die weißen Einkünfte in beiden dargestellten Fällen ist jeweils die Grenzgängerregel (im DBA D/A bzw. im DBA F/CH). Grenzgängerregeln gibt es in zahlreichen älteren, nicht nur deutschen DBA (D/A, D/F, D/CH). So finden sie sich auch in den DBA A/I und A/FL.

Grenzgängerregeln sind unsystematische Sonderregeln, die das Tätigkeitsortprinzip suspendieren. Sie waren ursprünglich auch sozialpolitisch motiviert, damit die Grenzgänger im Ansässigkeitsstaat die Vergünstigungen des subjektiven Leistungsfähigkeitsgrundsatzes in Anspruch nehmen konnten (z.B. Grundfreibetrag, Sonderausgabenabzug oder außergewöhnliche Belastungen). Da sie im Tätigkeitsstaat nur der beschränkten Steuerpflicht unterliegen, werden ihnen dort diese Vorteile nicht im gleichen Umfang wie einen unbeschränkt Steuerpflichtigen gewährt. Zugleich sind ihre Einkünfte im Ansässigkeitsstaat freigestellt, womit ihre theoretisch mögliche Berücksichtigung praktisch häufig ins Leere läuft. Durch die Durchbrechung des Tätigkeitsortsprinzips ist die Gewährung der Vorteile aber möglich.

Seit der Umsetzung des Schumacker-Urteils des EuGH in Deutschland durch § 1 Abs. 3 und § 1a EStG sind Grenzgängerregeln in DBA zumindest in Inboundfällen jedoch aus sozialpolitischer Perspektive überflüssig. Wenn der Steuerpflichtige seine Einkünfte ausschließlich oder fast ausschließlich im Tätigkeitsstaat erzielt, kann er sich mit seinen inländischen Einkünften wie ein unbeschränkt Steuerpflichtiger besteuern lassen und somit die Vorteile des subjektiven Leistungsfähigkeitsprinzips in Anspruch nehmen. In den DBA D/A, D/F und D/CH wurde die damit anachronistische Regel dennoch beibehalten und versucht, die mögliche Keinmalbesteuerung durch unwirksame Maßnahmen der Finanzverwaltung ohne gesetzliche Grundlage zu korrigieren. Angesichts der zahlreichen Verfahren, die im Lichte dieser Normen vor den Finanzgerichten ausgetragen wurden und werden, sollten die abkommensrechtlichen Grenzgängerregeln grundsätzlich hinterfragt werden.

Fazit | Zur Vermeidung einer durch eine Grenzgängerregel entstandene Keinmalbesteuerung wären verschiedene Lösungsansätze denkbar. Der deutsche Gesetzgeber könnte jeweils für den Inbound- und Outboundfall einen unsystematischen Treaty Override in § 50d EStG kodifizieren. Damit würde eine unsystematische Verwerfung im DBA durch zwei weitere im nationalen Recht überschrieben. Die Vertragspartner könnten aber einfach und systematisch überzeugend die anachronistischen Grenzgängerregeln aus den deutschen DBA streichen, so wie es im DBA D/B geschah. Damit wären aber Fälle, bei denen sich die Grenzgängerregel nicht in einem deutschen DBA (Outboundfall) befindet, nicht zu lösen. Auch hierfür existiert ein einfacher und systematisch überzeugender Ansatz: Deutschland sollte das Problem ignorieren und dessen Lösung den beiden Staaten überlassen, die es durch ihr DBA verursacht haben! Dies wäre ein kleiner Beitrag zur Vereinfachung des deutschen Steuerrechts.