Gedanken zum Principal Purpose Test
Mit dem multilateralen Übereinkommen (kurz MLI – Multilateral Instrument) wird der Principal Purpose Test als Minimumstandard in die deutschen Doppelbesteuerungsabkommen aufgenommen werden, die unter den MLI fallen. Zwar ist das MLI noch immer nicht in Deutschland ratifiziert, aber es ist zu erwarten, dass die Ratifizierung noch erfolgen wird.
Neue Anti-Treaty-Shopping-Klausel
Der Principal Purpose Test (kurz PPT) ist im Wesentlichen eine Anti-Treaty-Shopping-Klausel. Es ist genau besehen überraschend, dass im Rahmen des BEPS-Projekts an einer solchen Klausel überhaupt gearbeitet wurde. Ausgang des BEPS-Projekts war die Erfahrung, dass multilaterale Unternehmen oft steuerlich gering belastet sind und es war auch deutlich, dass der Grund hauptsächlich in den Lücken des Zusammenspiels zweier Steuersysteme lag. Die beteiligten Staaten hatten kaum Willen gezeigt, diese Lücken zu schließen. Dennoch hat die OECD den missbräuchlichen Gebrauch von Doppelbesteuerungsabkommen als ein wichtiges Element steuerlicher „Unfairness“ identifiziert und dafür einen eigenen Aktionspunkt des BEPS-Projekts reserviert (OECD, Action 6: Preventing the Granting of Treaty Benefits in Inappropriate Circumstances, Paris 2015).
Auf einer Internationalen Steuerkonferenz in 2017 hat der Direktor des OECD Centre for Tax Policy Pascal Saint-Amans erklärt: „Treaty Shopping will be killed, it is dead“. Das sind bemerkenswert harte Töne. Nun könnte man eine solche Äußerung als politisches Statement werten, das man nicht allzu ernst nehmen muss. Aber man sollte schon mal darüber nachdenken, wieviel Wahrheit in diesen Worten enthalten ist. Jedenfalls ist die Vorschrift des Artikel 29 Abs. 9 des OECD Musterabkommens 2017 extrem vage formuliert und wirft deshalb eine Vielzahl von Fragen auf.
Inhalt des Principal Purpose Tests
Der PPT besteht vor allem aus zwei Elementen. Zunächst muss die Erlangung eines steuerlichen Vorteils einer der hauptsächlichen Zwecke einer Transaktion oder einer Gesellschaftsstruktur sein. Der Anwendungsbereich der Norm ist damit extrem weit, er umfasst nahezu alle Fälle von Geschäftstätigkeiten im Ausland. Steuern sind bei der Planung immer ein wichtiger Kostenfaktor und man wird daher in fast allen Fällen zum Schluss kommen müssen, dass Steuern einer der hauptsächlichen Beweggründe für Transaktionen und Strukturen sind. Selbst wenn angeführt werden kann, dass andere Gründe wie politische Stabilität, Effektivität und Transparenz, das Vorhandensein von gut ausgebildeten Arbeitnehmern, niedrige Lohnkosten, ein großer Kundenbestand oder ein unternehmensfreundliches Klima ausschlaggebend für die Standortwahl waren, kann die Entscheidung steuerlich in Frage gestellt werden, zumal Quellenstaaten ein Interesse daran haben, steuerliche Strukturen kritisch zu sehen, wenn sie zu einer Anwendung von DBA und damit begrenzten Steuersätzen führen.
Der Wortlaut der Vorschrift selbst enthält keine deutliche Begrenzung oder einen klaren Ansatz für eine restriktive Auslegung, etwa in dem Sinne, dass bei Vorliegen wichtiger betriebswirtschaftlicher Gründe das DBA anzuwenden sei, auch wenn daneben auch steuerliche Gründe eine Rolle spielen. Zwar verweist die Vorschrift auf den Zweck der einschlägigen Abkommensbestimmungen und dies ist als Korrektiv des primär weiten Anwendungsbereichs gedacht. Der Verweis selbst ist aber kaum zielführend.
Zunächst ist der Zweck der Abkommensregelungen primär die Verteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen Staaten. Insofern sind die Verteilungsregelungen unabhängig von der Frage, ob ein Treaty Shopping im Einzelfall vorliegt oder nicht. Die OECD versucht deshalb im Kommentar zum OECD Musterabkommen 2017 (Tz. 174) den Abkommen einen einschränkenden Zweck unter zu schieben. DBA seien nur dazu bestimmt, in gutem Glauben („bona fide“), also in der Annahme „richtig zu handeln“, angewendet zu werden. Abkommensvorteile könnten nur dann gewährt werden, wenn der Austausch von Gütern und Dienstleistungen sowie die Bewegung von Kapital und Personen ohne das hauptsächliche Ziel Steuern zu sparen stattfindet. Der Kommentar ist zwar allenfalls Soft Law und kann lediglich zur Aufhellung des Abkommenstextes herangezogen werden, jedoch geht die OECD davon aus, dass der Zweck der Abkommensregelungen, auch der Verteilungsnormen, grundsätzlich auch in der Vermeidung des Abkommensmissbrauch und einer doppelten Nichtbesteuerung liegt.
Beachte | Diese Ansicht kann sich auf die Überschrift des Abkommens stützen und auch auf die neue Präambel der Abkommen (s. Artikel 6 MLI), ob sie die Auslegung von Verteilungsnormen leiten können, ist aber äußerst zweifelhaft.
Dennoch wird die Unterscheidung nach den Gründen bei der Auslegung eine Rolle spielen. Sollten betriebswirtschaftlich anzuerkennende Gründe die steuerlichen Vorteile deutlich überwiegen, kann nicht mehr davon gesprochen werden, dass die steuerlichen Vorteile den Hauptgrund für die Gestaltung bilden.
Hinweis | In der englischen Sprachfassung wird das deutlicher als in der deutschen Fassung: „principal“ ist nicht nur ein hauptsächlicher Zweck, sondern der wichtigste Zweck („first in order of importance“). Seltsam ist allerdings, dass es nach dem Wortlaut der Vorschrift mehrere wichtigste Zwecke geben soll.
Beispiel: Dividend Stripping
Der OECD Kommentar versucht anhand von Beispielen den Anwendungsbereich des PPT weiter zu verdeutlichen. Bei genauerer Betrachtung der Beispiele kommen aber große Zweifel auf, ob dieser Zweck wirklich erfüllt wird.
Beispiel A (Tz. 182 zu Art. 29) etwa betrifft einen Fall des Dividend Stripping. Die OECD geht ganz selbstverständlich davon aus, dass der Steuerpflichtige mit dem Verkauf des Rechts, die Dividenden zu vereinnahmen, das hauptsächliche Ziel verfolgt, sich in den Anwendungsbereich eines DBA einzukaufen mit der Folge, dass die Kapitalertragsteuer im Quellenstaat entfällt oder zumindest niedriger ausfällt. Ich denke nicht, dass diese Annahme ohne weiteres zugrunde gelegt werden kann. Denn zunächst stellt sich schon die grundsätzliche Frage, ob der Quellenstaat die Transaktion überhaupt in ihrer Gesamtheit übersehen kann.
Der Ansässigkeitsstaat der ausschüttenden Gesellschaft sieht nur, dass ein Abkommensberechtiger des anderen Vertragsstaats die Erstattung der Kapitalertragsteuer beantragt, von der Vorgeschichte weiß dieser Staat nichts. Ein automatischer Informationsaustausch findet in diesem Bereich nicht statt. Es bedarf also schon besonderer Verdachtsmomente, um die Berechtigung der Erstattung in Zweifel zu ziehen. Aber auch wenn die Verwaltung alle Tatsachen kennt, muss der Steuerpflichtige die Möglichkeit haben, einen Gegenbeweis zu führen in dem Sinne, dass dem Geschäft ein anzuerkennender betriebswirtschaftlicher Grund zugrunde liegt. Ferner muss die Finanzverwaltung nachweisen können, dass bei der Preisberechnung der steuerliche Vorteil eine Rolle gespielt hat. Das aber wird in den meisten Fällen nicht einfach sein, wenn die Transaktion in Form von Derivativen oder anderen Finanzinstrumenten vorgenommen wird.
Beachte | Außerdem stellt sich noch eine grundsätzliche Frage. Kann es wirklich der Zweck der DBA sein zu verhindern, dass sich ein Steuerpflichtiger eines anderen DBA bedient? Eine brasilianische Gesellschaft etwa, die eine Beteiligung an einer deutschen Gesellschaft hält, kann sich nicht auf ein DBA berufen, da Deutschland vor Jahren das DBA gekündigt hat. Aus Sicht des Steuerpflichtigen ist es nahezu unumgänglich, sich einer Tochtergesellschaft zu bedienen, die in einem Vertragsstaat gelegen ist. Ein missbräuchliches Verhalten kann ich hierin nicht sehen.
Es ist hier nicht der Platz, um alle Beispiele zu analysieren. Aber es lässt sich allgemein festhalten, dass sie zum Teil nicht alle Fakten nennen, die es bräuchte, um eine sinnvolle Beurteilung vornehmen zu können, zum anderen sind sie in manchen Fällen weit von der Praxis entfernt. Die Gefahr besteht aber, dass sich Quellenstaaten darauf berufen ohne die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen.
Schlussfolgerungen | Der Principal Purpose Test hat einen deutlich zu weit geratenen Anwendungsbereich. Die Unterzeichnerstaaten des MLI hatten die Option (Art. 7 Abs. 4 MLI), eine Ermessensklausel („disretionary relief“) in die DBA aufzunehmen, mittels derer der Anwendungsbereich beschränkt werden kann. Leider hat kaum eines der Unterzeichnerstaaten – auch Deutschland nicht – davon Gebrauch gemacht.
Sicherlich kann Artikel 29 OECD MA restriktiv ausgelegt werden und man kann davon ausgehen, dass die Gerichte in Deutschland oder auch in den Niederlanden sehr kritisch auf die Vorschrift schauen werden. Das Problem der Vorschrift ist, dass es Ländern die nahezu unbegrenzte Möglichkeit der Nichtanwendung von DBA einräumt, die keine oder eine nur sehr begrenzt rechtsstaatliche Finanzgerichtsbarkeit kennen. So sind in manchen Ländern die Richter nicht unabhängig oder in Finanzsachen äußerst unerfahren, Urteile werden nicht publiziert oder es fehlen allgemein rechtsstaatliche Grundsätze. So werden sich viele Steuerzahler in Zukunft damit auseinandersetzen müssen, dass Quellenstaaten Abkommensvorteile unter Berufung auf den PPT verweigern, zumal viele Unterzeichnerstaaten die Option zur Aufnahme eines Schiedsverfahrens nicht gewählt haben.