Global Taxes Europäisches Steuerrecht
Rainer Prokisch

Die dänischen/luxemburgischen Fälle zur Nutzungsberechtigung (Beneficial Ownership)

Der EuGH hat am 26.2.2019 mehrere Entscheidungen getroffen (N Luxemburg 1 u.a. C-115/16, 118/16, 119/16, 299/16 zur Zins-Lizenzgebühren-RL; T Dänemark u.a. C-116/16 und 117/17 zur Mutter-Tocher-RL), in denen einige fundamentale Fragen des gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsbegriffs, der Auslegung des Begriffs des Nutzungsberechtigten und des Verhältnisses zwischen Nutzungsberechtigung und allgemeiner Missbrauchsklausel angesprochen sind. Die Entscheidungen haben in Deutschland noch wenig Widerhall gefunden (vgl. aber Schnitger, IStR 2019, 304; Linn/Pignot, IWB 2019, 386), während sie in den Niederlanden zu großer Aufregung führten. Schon ein kurzer Blick auf die Entscheidungen zeigt, dass sie in ihren theoretischen wie auch praktischen Auswirkungen nicht unterschätzt werden sollten.

In allen Fällen geht es um die Quellenbesteuerung von Zins- und Dividendenzahlungen innerhalb der EU, wobei die Anteile der Empfängergesellschaften von Gesellschaften bzw. Zweckvermögen in Drittstaaten gehalten wurden. Offensichtlich waren diese Gesellschaften in der EU zwischengeschaltet worden, um so jegliche Besteuerung in den Quellenstaaten zu vermeiden. Die dänischen Finanzbehörden hatten jedoch die Anwendung der einschlägigen Richtlinien verweigert mit der Begründung, dass es sich bei den empfangenden EU-Gesellschaften um bloße Durchleitungsgesellschaften handelte und daher nicht von einer Nutzungsberechtigung gesprochen werden könnte. Dementsprechend könnten die Richtlinien in diesen Fällen nicht zur Anwendung kommen. Die dänischen Gerichte haben daraufhin die Frage und damit zusammenhängende Zweifel dem EuGH zur Klärung vorgelegt.

Die Nutzungsberechtigung in der Zins-Lizenzgebühren-RL

Nach Art. 1 Abs. 1 und Abs. 4 der Zins-Lizenzgebühren-RL hängt die Freistellung von der Quellenbesteuerung davon ab, ob der Empfänger als Nutzungsberechtigter gesehen werden kann. Nach Ansicht des EuGH darf für das Verständnis des Begriffes nicht auf das innerstaatliche Recht der Mitgliedsländer abgestellt werden, vielmehr bedarf es einer autonomen Auslegung (N Luxemburg 1, Tz. 84). Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass es nicht um den formellrechtlichen Empfänger der Einkünfte geht, sondern um die Person, die wirtschaftlich betrachtet den Vorteil genießt und über die Einkünfte eigenständig verfügen kann. Das setzt voraus, dass die zwischengeschaltete Gesellschaft über ausreichende Substanz verfügt. Interessanterweise verweist der EuGH auf das OECD Musterabkommen und den dazugehörigen Kommentar, wo der Begriff des Nutzungsberechtigten nicht nur als Fall der Einkünftezurechnung gesehen wird, sondern auch zur Bekämpfung von steuerlichem Missbrauch gebraucht wird. Insbesondere sei der Begriff geeignet, zwischengeschaltete Durchlaufgesellschaften nicht als Nutzungsberechtigte anzusehen (N Luxemburg 1, Tz. 92).

Beachte | Erfüllt allerdings der dahinterstehende tatsächliche Nutzungsberechtigte die Voraussetzungen der Richtlinie, so ist die Freistellung von der Quellensteuer dennoch zu gewähren (N Luxemburg 1, Tz. 94).

Anders als die Zins-Lizenzgebühren-RL enthält die Mutter-Tochter-RL das Erfordernis des Nutzungsberechtigten nicht (in den hier zu entscheidenden Fällen waren die Anti-Missbrauch-Vorschriften des Art. 1 Abs. 2 und 3 noch nicht in Kraft). Das dänische vorlegende Gericht hatte daher die Frage aufgeworfen, ob die Vorschriften über Dividenden in den jeweiligen Doppelbesteuerungsabkommen, die die Quellensteuerentlastung von der Nutzungsberechtigung abhängig machen, ergänzend herangezogen werden können. Aus Sicht des EuGH kommt es auf die Frage der Nutzungsberechtigung nicht entscheidend an (s. unten), sodass das Gericht die Frage nicht beantworten musste. Es scheint aber, dass das Gericht annimmt, dass die Voraussetzung der Nutzungsberechtigung stillschweigend auch in der Mutter-Tochter-RL enthalten ist (T Dänemark, Tz. 111).

Bedarf es einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage?

Art. 5 der Zins-Lizenzgebühren-RL und Art. 1 Abs. 4 der Mutter-Tochter-RL erlauben den Mitgliedstaaten eine Missbrauchsklausel in das nationale Recht aufzunehmen mit der Folge, dass die Staaten die Richtlinie nicht anwenden müssen, wenn deren Voraussetzungen vorliegen. In „Kofoed“ hatte der EuGH dazu eine vermittelnde Auffassung vertreten: zwar seien die Mitgliedsstaaten verpflichtet, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen, wenn aber das nationale Recht schon Rechtsgrundsätze oder allgemeine Missbrauchsklauseln aufweise, die einen Missbrauch verhindern könnten, bedürfte es keiner speziellen Umsetzung der Richtlinie mehr (EuGH, Urt. v. 5.7.2007 – C-321/05). In den hier besprochenen Urteilen hingegen geht der EuGH einen Schritt weiter: es reiche schon der allgemeine gemeinschaftsrechtliche Grundsatz aus, dass sich der Bürger nicht auf EU-Recht berufen könne, wenn ein missbräuchlicher Zweck gegeben sei (N Luxemburg 1, Tz. 95 bis 122). Mit anderen Worten schließt Art. 5 der Zins-Lizenzgebühren-RL die Anwendung des allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsgrundsatzes nicht aus und es bedarf keiner eigenständigen nationalen Rechtsgrundlage.

Der Inhalt des allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsgrundsatzes

Der EuGH (N Luxemburg 1, Tz. 123ff.) stellt zunächst fest, dass Missbrauch eine objektive und eine subjektive Komponente hat. Es bedürfe einer sorgfältigen Prüfung der Tatsachen daraufhin, ob objektive Tatbestandsmerkmale auf eine Absicht hindeuten, Vorteile des Gemeinschaftsrechts missbräuchlich zu erlangen. Die Gestaltung muss eine gewisse Künstlichkeit aufweisen, an der es dann fehlen wird, wenn sie sich durch wirtschaftliche oder kaufmännische Gründe rechtfertigen lässt. Darin steckt eine Beweislastverteilung: während die Verwaltung bzw. das Gericht die Tatbestandsmerkmale, die auf einen Missbrauch hinweisen, belegen muss (N Luxemburg 1, Tz. 142), ist es Sache des Steuerpflichtigen darzulegen, dass der Gestaltung wirtschaftliche Gründe zugrunde liegen.

Zu den hier zu entscheidenden Fällen führt der EuGH aus, dass ein Richtlinienshopping mittels einer Zwischenschaltung einer Gesellschaft in einem Drittstaat dann als missbräuchlich anzusehen ist, wenn die Gestaltung auf die Vermeidung der Quellenbesteuerung gerichtet ist. Die zwischengeschaltete Gesellschaft kann dann nicht als Nutzungsberechtigter angesehen werden, wenn die Zinsen (oder Dividenden) zeitnah an die Muttergesellschaft weitergeleitet werden, die in ihrer Person wiederum die Vorteile der Richtlinie nicht hätte geltend machen können. Ferner kommt es darauf an, ob die Durchleitungsgesellschaft im Hinblick auf die fragliche Transaktion ausreichende Substanz aufweist. Das bedarf einer Einzelfallbeurteilung unter Berücksichtigung von Geschäftsführung, Bilanz, Kostenstruktur, tatsächlichen Ausgaben, Anzahl und Qualität der Beschäftigten, Verfügung über Geschäftsräume und der erforderlichen Ausstattung (N Luxemburg 1, Tz. 131). Auch kann die jeweilige Vertragsgestaltung zwischen den beteiligten Gesellschaften ein Indiz für die Künstlichkeit der Gestaltung darstellen. So kann die Ausstattung mit geringem Eigenkapital oder die fehlende Verfügungsmacht über die zugeflossenen Finanzmittel auf eine missbräuchliche Gestaltung hindeuten (N Luxemburg 1, Tz. 132). Es kommt allerdings nicht nur auf die Vertragsgestaltung an, auch eine abweichende praktische Durchführung kann zum Schluss führen, dass die zwischengeschaltete Gesellschaft keine Verfügungsmacht über die zugeflossenen Mittel besitzt.

Hinweis | Entgegen der Auffassung der Generalanwältin Kokott hält der EuGH es nicht für notwendig, dass der wahre Nutzungsberechtigte ermittelt wird. Es reicht aus, wenn die Substanzlosigkeit der zwischengeschalteten Gesellschaft nachgewiesen werden kann (N Luxemburg 1, Tz. 143, 144).

Brutto- oder Nettobesteuerung

Eine weitere höchst wichtige Ausführung des Gerichts betrifft die Frage der Nettobesteuerung. Quellensteuern werden von beschränkt Steuerpflichtigen in der Regel auf Bruttobasis erhoben, was nach Ansicht des EuGH gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstößt, wenn im Falle von ansässigen Empfängern eine Nettobesteuerung möglich ist (N Luxemburg 1, Tz. 173ff.). Das kann weitreichende Folgen für ein Steuersystem haben. Bei einer Nettobesteuerung müssen etwa Finanzierungskosten einer Beteiligung im Quellenstaat Berücksichtigung finden können. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob der Ansässigkeitsstaat nicht den Abzug von Finanzierungskosten (auch bei Bestehen eines Schachtelprivilegs) verweigern könnte mit dem Hinweis, dass die Kosten bereits im Quellenstaat zum Abzug kommen müssten. Soweit die Kapitalverkehrsfreiheit betroffen ist, gilt die Pflicht zur Nettobesteuerung im übrigen auch gegenüber Drittstaaten.

Die Relevanz für das niederländische Recht

Die Niederlande werden traditionell häufig für Richtlinienshopping genutzt. Die Anzahl von Durchleitungsgesellschaften mit einer niederländischen Registrierung ist unübersehbar (Schätzungen belaufen sich auf etwa 15.000). Oft handelt es sich aber um Briefkastengesellschaften, die keine oder wenig Substanz aufweisen. Von der Gründung, Verwaltung und dem formellen Management lebt in den Niederlanden eine ganze Industrie, frühere Schätzungen kamen zum Ergebnis, dass der Fiskus daran mit mehreren Mrd. € an Steuern profitiert. Die hier besprochenen EuGH-Entscheidungen stellen also eine ganze Industrie in Frage.

Zeitungsberichte haben zu mehreren Anfragen im Parlament geführt, sodass der Staatssekretär im Finanzministerium zur Stellungnahme verpflichtet war. Er sieht die Niederlande vor allem in der Pflicht, die Substanzanforderungen an Durchleitungsgesellschaften zu verschärfen und präziser zu definieren. Ferner soll stärker darauf geachtet werden, ob Einkünfte von Durchleitungsgesellschaften zeitnah durchbezahlt werden. Allerdings vermeidet er die Diskussion um den Wirtschaftsstandort Niederlande. Es wird darum interessant sein, wie andere EU-Mitgliedsstaaten die Pflicht zur Missbrauchsbekämpfung im Verhältnis zu den niederländischen Durchleitungsgesellschaften handhaben werden.

Die Relevanz für das deutsche Recht

Nach den Urteilen des EuGH in den Rs. GS (C-440/17) und Deister/Juhler Holding (C-504/16, C-613/16) zu § 50d Abs. 3 EStG muss der deutsche Gesetzgeber die Antimissbrauchsvorschrift an die Rechtsprechung des EuGH anpassen (auch das BMF-Schreiben v. 4.4.2018 BStBl. 2018, 589 genügt den Vorgaben nicht). Die hier besprochenen Urteile bestätigen nochmals, dass typisierende Missbrauchsregelungen gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen. Es muss die Möglichkeit des Gegenbeweises geben und die Nachweispflicht der Tatbestandsvoraussetzungen liegt bei der Finanzverwaltung.

Im Verhältnis zu anderen EU-Mitgliedstaaten wäre § 50d Abs. 3 EStG nach den hier besprochenen Urteilen nicht mehr nötig, da sich die Finanzverwaltung unmittelbar auf den gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsgrundsatz bzw. auf die Richtlinien berufen kann. Im Verhältnis zu Drittstaaten wird zudem künftig die abkommensrechtliche Missbrauchsvorschrift („Principle Purpose Test“), soweit die Abkommen vom multilateralen Übereinkommen erfasst sind, zu adäquaten Ergebnissen führen. Für einen neugefassten § 50d Abs. 3 EStG bliebe dann nur noch ein sehr beschränkter Anwendungsbereich.

Fazit | Nach den Urteilen des EuGH v. 26.2.2019 ist deutlicher, was der EuGH unter Rechtsmissbrauch versteht, wann der Grundsatz zur Anwendung kommen kann und wie die Beweislast zwischen Steuerpflichtigen und Finanzverwaltung verteilt werden muss. Die Urteile führen durchaus zu einer ausgewogenen Lösung, in ihrer theoretischen Unterbauung bleiben jedoch Zweifel. Das Gericht zieht etwa den Kommentar zu den OECD-Musterabkommen als Richtlinie für seine eigene Entscheidung heran, anstatt einen eigenen gemeinschaftsrechtlichen Inhalt zu entwickeln. Der OECD Kommentar zum Begriff des Nutzungsberechtigten schießt aber über sein ursprüngliches Ziel hinaus und das zweifelhafte OECD-Verständnis wird nun auf das Gemeinschaftsrecht übertragen.

Im Übrigen stellt sich die Frage, ob im Falle einer Verweigerung der Richtlinienvorteile das jeweilige DBA ersatzweise zur Anwendung kommt. Der niederländische Staatssekretär im Finanzministerium bejaht diese Frage, die EU-Kommission stimmt dem zu, soweit es um das Verhältnis zu Drittländern geht. DBA zwischen EU-Mitgliedsstaaten sollen wohl nicht anwendbar sein. Das lässt sich auch den Richtlinienvorschlägen zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft entnehmen (COM(2018) 147 final und COM(2018) 148 final). In deren Zusammenhang äußert die Kommission die Ansicht, dass einschlägige Doppelbesteuerungsabkommen von den Richtlinien überschrieben werden. Die unterschiedlichen Auffassungen werden allerdings dann nicht mehr von größerer Bedeutung sein, sobald das Multilaterale Übereinkommen in Kraft tritt. Viele Abkommen werden dann eine besondere Missbrauchsvorschrift enthalten, die in ihrem Anwendungsbereich sogar weitergeht als das vom EuGH geäußerte Verständnis des Begriffs des Nutzungsberechtigten.