European Insolvency & Restructuring Insolvenzverfahren
Jessica Schmidt

Annexzuständigkeit im Europäischen Insolvenzrecht – der EuGH ergänzt ein weiteres Puzzleteil …

Mit seinem Urteil im Fall „Wiemer & Trachte“ vom 14.11.2018 hat der EuGH das komplexe Konzept der Annexzuständigkeit im internationalen Insolvenzrecht um ein weiteres wichtiges Puzzleteil ergänzt. Dies gibt Anlass, einen näheren Rück- und Ausblick auf dieses spannende Themengebiet zu werfen.

Rechtsgrundlagen der Annexzuständigkeit

Die Abgrenzung gegenüber dem Internationalem Zivilprozessrecht gehört zu den diffizilsten und umstrittensten Aspekten des Internationalen Insolvenzrechts.

Der EuGH hat bereits 2009 in der Grundsatzentscheidung Deko Marty (EuGH v. 12.2.2009, Deko Marty, C-339/07, ECLI:EU:C:2009:83) entschieden, dass das Gericht des Hauptinsolvenzverfahrens gemäß Art. 3 Abs. 1 EuInsVO 2000 (analog) für alle Klagen zuständig ist, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen. Für solche sog. Annexverfahren besteht somit ebenfalls eine Zuständigkeitskonzentration am Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen (centre of main interests – COMI) des Schuldners. Der Europäische Gesetzgeber hat dies zwischenzeitlich erfreulicherweise in Art. 6 Abs. 1 EuInsVO 2015 kodifiziert.

Anwendungsbereich

Die genauen Konturen des Anwendungsbereichs der Annexzuständigkeit gem. Art. 3 Abs. 1 EuInsVO 2000 (analog) bzw. Art. 6 Abs. 1 EuInsVO 2015 waren allerdings von Anfang an höchst umstritten. Denn die vom EuGH in Anknüpfung an die Gourdain/Nadler-Judikatur aufgestellten Kriterien des „unmittelbaren Hervorgehens“ aus dem Insolvenzverfahren und des „engen Zusammenhangs“ mit dem Insolvenzverfahren sind relativ vage.

Paradebeispiel für solche Annexverfahren sind jedenfalls Insolvenzanfechtungsklagen – sie waren bereits Gegenstand der Grundsatzentscheidung Deko Marty. Im Jahr 2014 stellte der EuGH dann in der Rechtssache Schmid klar, dass die Annexzuständigkeit für Insolvenzanfechtungsklagen auch dann gilt, wenn der Anfechtungsgegner seinen Wohnsitz in einem Drittstaat hat (EuGH v. 16.1.2014, Schmid, C-328/12, E-CLI:EU:C:2014:6, Rn. 60 ff.).

Darüber hinaus hatte der EuGH bereits in einer ganzen Reihe weiterer Entscheidungen Gelegenheit, den Anwendungsbereich der Annexzuständigkeit weiter zu konturieren. Bejaht wurde eine Annexzuständigkeit dabei insbesondere für folgende Klagen:

  • Klage auf Rückforderung von Gesellschaftsanteilen, deren Veräußerung wegen Nichtanerkennung des Verwalterhandelns unwirksam war (EuGH v. 2.7.2009, SCT Industri, C-111/08, ECLI:EU:C:2009:419);
  • Klage des Insolvenzverwalters gegen den Geschäftsführer auf Rückzahlung von Beträgen, die dieser nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit bzw. Überschuldung geleistet hat (EuGH v. 4.12.2014, H, C-295/13, ECLI:EU:C:2014:2410);
  • Klage auf deliktischen Schadensersatz gegen Mitglieder eines Gläubigerausschusses wegen ihres Verhaltens bei einer Abstimmung über den Sanierungsplan (EuGH v. 20.12.2017, Valach, C-649/16, ECLI:EU:C:2017:986).

Verneint wurde eine Annexzuständigkeit dagegen in folgenden Fällen:

  • auf Eigentumsvorbehalt gestützte Klage des Vorbehaltsverkäufers gegen den insolventen Vorbehaltskäufer (EuGH v. 10.9.2009, German Graphics, C-292/08, E-CLI:EU:C:2009:544);
  • Klage gegen Organmitglied auf Schadensersatz wegen Fortführung einer unterkapitalisierten Gesellschaft (EuGH v. 18.7.2013, ÖFAB, C-147/12, ECLI:EU:C:2013:490);
  • Klage des Zessionars aus einer vom Insolvenzverwalter abgetretenen Insolvenzanfechtungsforderung (EuGH v. 19.4.2012, F-Tex, C-213/10, ECLI:EU:C:2012:215);
  • vom Insolvenzverwalter erhobene Klage auf Erbringung von Beförderungsleistungen (EuGH v. 4.9.2014, Nickel & Goeldner, C-157/13, ECLI:EU:C:2014:2145);
  • Haftungsklage wegen unlauteren Wettbewerbs, mit der dem Übernehmer eines im Rahmen eines Insolvenzverfahrens erworbenen Geschäftsbereichs vorgeworfen wurde, sich zu Unrecht als Alleinvertriebshändler der vom Schuldner hergestellten Waren dargestellt zu haben (EuGH v. 9.11.2017, Tünkers France and Tünkers Maschinenbau, C-641/16, ECLI:EU:C:2017:847).

Diese recht breit gefächerte Kasuistik liefert zwar wertvolle Anhaltspunkte. Wo genau die Grenzen der Annexzuständigkeit verlaufen, bleibt aber weiterhin unklar. Nach wie vor höchst umstritten ist etwa die Einordnung von Ansprüchen aus Insolvenzverschleppungshaftung oder Existenzvernichtungshaftung. Man kann daher nur hoffen, dass der EuGH die bestehenden Rechtsunsicherheiten bald ausräumt.

Konkurrierende oder ausschließliche Zuständigkeit?

Höchst umstritten war bislang außerdem die Rechtsnatur der Zuständigkeit: Ist diese ausschließlicher Natur? Handelt es sich lediglich um eine konkurrierende Zuständigkeit? Oder gar um eine „relativ ausschließliche“ Zuständigkeit im Sinne einer Privilegierung des Insolvenzverwalters (d.h., dass nur dieser davon abweichen darf)?

Diese praktisch äußerst wichtige Frage hat der EuGH nun erfreulicherweise mit dem Urteil in der Rechtssache Wiemer & Trachte v. 14.11.2018 (EuGH v. 14.11.2018, Wiemer & Trachte, C-296/17, ECLI:EU:C:2018:902; dazu J. Schmidt ZInsO 48/2018) eindeutig höchstrichterlich geklärt: Bei der Annexzuständigkeit handelt es sich um eine ausschließliche Zuständigkeit.

Die Entscheidung des EuGH betraf zwar formal nur Art. 3 Abs. 1 EuInsVO 2000, beansprucht jedoch gleichermaßen auch für Art. 6 Abs. 1 EuInsVO 2015 (der die bisherige Judikatur ja lediglich kodifiziert) Geltung.

Die Qualifikation als ausschließliche Zuständigkeit ist in der Sache auch überzeugend. Maßgeblich dafür spricht bereits, dass Art. 3 Abs. 1 EuInsVO 2000 in seinem genuinen Anwendungsbereich unstreitig eine ausschließliche Zuständigkeit begründet; für die analoge Anwendung der Vorschrift auf Annexverfahren kann daher konsequenterweise nichts anderes gelten. Im Rahmen der EuInsVO 2015 wird die Qualifikation als ausschließliche Zuständigkeit zudem durch einen Umkehrschluss aus Art. 6 Abs. 2 EuInsVO 2015 untermauert: Wenn Art. 6 Abs. 1 EuInsVO 2015 nur eine konkurrierende Zuständigkeit begründen würde, wäre diese Vorschrift schlicht überflüssig.

Beachte | Vor allem aber vermag nur eine Interpretation als ausschließliche Zuständigkeit den effet utile der EuInsVO zu gewährleisten: Nur durch eine Konzentration sämtlicher Annexverfahren bei den Gerichten des Mitgliedstaats des Hauptinsolvenzverfahrens kann sichergestellt werden, dass das Insolvenzverfahren schnell und effizient abgewickelt werden kann und forum shopping verhindert wird.

Fazit | Mit seinem Urteil in der Rechtssache Wiemer & Trachte hat der EuGH das komplexe Konzept der Annexzuständigkeit um ein weiteres wichtiges Puzzleteil ergänzt: Die Annexzuständigkeit ist eine ausschließliche Zuständigkeit. Wo genau die Grenzen des Anwendungsbereichs der Annexzuständigkeit verlaufen, ist jedoch trotz der inzwischen recht zahlreichen Urteile des Gerichtshofs zu diesem Problemkomplex nach wie vor nicht abschließend geklärt. Es bleibt also spannend.