Global Taxes Außensteuerrecht

Einkünftekorrektur bei Produktionsverlagerung auf eine Schwestergesellschaft im Ausland

– Systemverhältnis von § 1 Abs. 1 des Außensteuergesetzes (AStG) gegenüber anderen Einkünftekorrekturvorschriften (BFH-Urteil v. 9.8.2023 – I R 54/19) –

Das Urteil des BFH v. 9.8.2023 (Az. I R 54/19) liefert einen praxisrelevanten Beitrag auf dem Gebiet des Außensteuerrechts. Aufgrund der Normierung des Konkurrenzverhältnisses einer Einkünftekorrektur nach § 1 Abs. 1 des Außensteuergesetzes (AStG) zu den Regelungen über die verdeckte Gewinnausschüttung nach § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG ist die Entscheidung als echter „Leading Case“ einzustufen. Der BFH beschäftigt sich im Rahmen der Kostenaufschlagsmethode mit der Einbeziehung von Materialkosten eines Produktionsunternehmens, wenn der Auftraggeber die zu bearbeitenden Materialien zum Einstandspreis an das Produktionsunternehmen verkauft und nach Bearbeitung zurückkauft. Mit der Ausführung zur Teilung der Standortvorteile treibt der Senat die Weiterentwicklung des „Transfer Pricing“ voran. Der Autor, Prozessvertreter der Klägerin vor dem BFH, würdigt die Kernaussagen des Urteils in Hinblick auf deren Umsetzung in der Beratungspraxis.

I. Sachverhalt

In der Rechtssache CD (nachfolgend als „Klägerin“ bezeichnet) gegen Finanzamt F (nachfolgend als „Beklagter“ bezeichnet) entwickelt, produziert und vertreibt die Klägerin, eine GmbH, Produkte auf dem Gebiet der Trenn- und Zerspantechnik.

Im Jahr 2007 gründete der Gesellschafter-Geschäftsführer der Klägerin in der Föderation von Bosnien und Herzegowina die Schwestergesellschaft „CB“ (nachfolgend als „C“ bezeichnet), eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, als Alleingesellschafter. Die Aufnahme der Produktion in Bosnien-Herzegowina erfolgte im Jahr 2008.

Die Gründung der C war nach der Darlegung der Klägerin eine Reaktion auf die wirtschaftliche Situation als Automobilzulieferer im Jahr 2006 am Standort Bundesrepublik Deutschland (Deutschland). Der überwiegende Teil ihrer Verkaufsartikel unterlag einer mehrstufigen Fertigung, die verschiedene Kombinationen von Fertigungsverfahren umfassen konnte. Insbesondere bei den arbeitszeitintensiven Fertigungsverfahren (Trennschleifen, Drehen, Fräsen) sei man aufgrund des hohen Lohnniveaus nicht mehr wettbewerbsfähig gewesen.

Die von der Klägerin in Auftrag gegebenen Arbeiten führte C mit dem gekauften Material und ihrem Personal aus. Alsdann verkaufte C die Produkte an die Klägerin; zum Teil wurden die Produkte unmittelbar von C an die Endkunden der Klägerin geliefert, zum Teil wurden sie von der Klägerin oder von Drittfirmen weiterbearbeitet. Die Klägerin ermittelte die Verrechnungspreise für die von ihr gekauften Produkte anhand einer „Deckungsbeitragsrechnung“.

Bis zum Jahr 2012 nahm die Klägerin alle von C in Bosnien-Herzegowina hergestellten Produkte ab. Ab 2013 erzielte C eigene Umsätze mit der Fremdfirma P. Dabei handelte es sich um einen früheren Kunden der Klägerin. Da diese bei einer Produktion in Deutschland dem Kunden P keine konkurrenzfähigen Preise anbieten konnte, übernahm C die Aufträge und belieferte P mit den von ihr hergestellten Produkten. Einen eigenen Vertrieb hatte C in den Jahren 2011 bis 2013 (Streitjahre) nicht.

Im Rahmen einer Außenprüfung unter Beteiligung eines Fachprüfers für Auslandsbeziehungen ging dieser davon aus, dass die Verlagerung von Funktionen und Risiken auf C in den Jahren 2007/2008 dem Grunde nach den Tatbestand einer Funktionsverlagerung erfüllen. Im Hinblick auf die Warenkäufe der Klägerin von C seien die durch die Deckungsbeitragsrechnung ermittelten Verrechnungspreise nicht der Besteuerung zugrunde zu legen, vielmehr müssten einkommenserhöhend verdeckte Gewinnausschüttungen (vGA) angesetzt werden. Der Fachprüfer stufte C als Lohnfertiger ein. Der Beklagte übernahm dessen Prüfungsfeststellungen.

Als Gericht erster Instanz lehnte das FG München einen Einbezug der Materialkosten (Kosten der Materialbeschaffung) bezüglich der Bemessungsgrundlage für den Kostenaufschlagssatz ab (FG München v. 26.11.2019 – 6 K 1918/16, IStR 2020, 469 Rn. 91).

Im Anschluss an das finanzgerichtliche Verfahren legten beiden Parteien Revision ein. Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) ist dem Verfahren beigetreten, ohne einen Antrag zu stellen.

II. Entscheidung

1. Rangverhältnis zwischen § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG und § 1 Abs. 1 AStG

Der BFH statuiert, der sachliche Anwendungsbereich des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG sei nicht davon berührt, dass es im Streitfall um eine grenzüberschreitende Geschäftsbeziehung zwischen nahestehenden Personen geht und folglich auch der Tatbestand der Einkünftekorrekturvorschrift des § 1 Abs. 1 AStG in der für die Streitjahre geltenden Fassung angesprochen ist.

In seinem vorausgehenden Urteil vom 27.11.2019 – I R 40/19 (I R 14/16) (BFHE 268, 1) hat der BFH festgehalten, dass der Regelung in § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG kein Vorrang gegenüber der Regelung des § 1 Abs. 1 AStG zukommt, dass beide Vorschriften vielmehr „[einander] überlagern“. Die Entscheidung ist unter Hinweis auf den Wortlaut des § 1 Abs. 1 AStG a.F. („unbeschadet anderer Vorschriften“) ergangen. § 1 Abs. 1 AStG ist indessen durch das Unternehmensteuerreformgesetz 2008 (UntStRefG 2008) vom 14.08.2007 (BGBl I 2007, 1912, BStBl I 2007, 630) – und damit für die Streitjahre – um einen Satz 3 (für 2011, 2012) beziehungsweise Satz 4 (für 2013) ergänzt worden, wonach „die weitergehenden Berichtigungen neben den Rechtsfolgen der anderen Vorschriften durchzuführen“ sind.

Abkehrend von dieser Rechtsprechung sei die neue Fassung der Norm dahin zu verstehen, dass § 1 Abs. 1 AStG gegenüber anderen Einkünftekorrekturvorschriften (hier § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG) grundsätzlich zurücktritt und nur dann (subsidiär) zur Anwendung kommt, wenn die andere Norm Berichtigungen nur in einem geringeren Umfang zulässt. Damit ist § 1 Abs. 1 AStG nur dann und nur insoweit anzuwenden, als mit dieser Rechtsgrundlage eine weiterreichende Einkünftekorrektur ausgelöst wird (so auch Ditz/Wassermeyer in Wassermeyer/Baumhoff/Ditz, Verrechnungspreise international verbundener Unternehmen, 2. Aufl., Rz 2.202; Kraft in Kraft, AStG, 2. Aufl., § 1 Rz 20; Kaminski in Strunk/Kaminski/Köhler, AStG/DBA, § 1 AStG Rz 14; Hofacker in Haase, AStG/DBA, 3. Aufl., § 1 AStG Rz 46; Brandis/Heuermann/Pohl, § 1 AStG Rz 18). Diese Auslegung stimme mit den Gesetzesmaterialien überein, in denen ausgeführt wird, dass „Berichtigungen nach Satz 1 andere Regelungen …, die unverändert grundsätzlich Vorrang haben, ergänzen“ (BTDrucks 16/4841, S. 85). Auch die Finanzverwaltung folgt dieser Auffassung (BMF-Schreiben vom 06.06.2023 – Verwaltungsgrundsätze Verrechnungspreise, Grundsätze für die Korrektur von Einkünften gemäß § 1 AStG, BStBl I 2023, 1093, Rz 1.3 und 1.4).

Nach geltender Rechtsprechung sind für den Fremdvergleich im Rahmen der vGA im Grundsatz keine anderen Maßgaben als im Rahmen des § 1 Abs. 1 AStG anzuwenden (Senatsurteile vom 27.11.2019 – I R 40/19 (I R 14/16), BFHE 268, 1; vom 18.05.2021 – I R 4/17, BFHE 273, 440, BStBl II 2023, 678). Für die Rechtslage der Streitjahre nach Einfügung des § 1 Abs. 3 AStG i.d.F. des UntStRefG 2008 (sogen. erweiterter Fremdvergleich) könne jedoch der Prüfungsmaßstab abweichen, was für jeden einzelnen Geschäftsvorfall gesondert zu prüfen sei.

Praxishinweis | Für die Praxis hat die aktuelle Entscheidung des BFH durch die Klarstellung des Rangverhältnisses zwischen § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG und § 1 Abs. 1 AStG hohe Relevanz. Bis dato zeichnete sich durch die Entscheidung im Jahr 2019 ein Widerspruch zu älterer Rechtsprechung des BFH ab (hinsichtlich der vor 2019 vertretenen Ansicht des BFH vgl. nur v. 9.11.1988 – I R 335/83, BFHE 155, 101, BStBl. II 1989, 510, BeckRS 1988, 22008736; v. 17.2.1993 – I R 3/92, BStBl. II 1993, 457, NJW-RR 1994, 32; v. 23.10.1985 – I R 247/81, BStBl. II 1986, 195, BeckRS 1985, 22007429; v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BFHE 151, 523, BStBl. II 1988, 348, BeckRS 1987, 22008261; v. 13.6.2018 – I R 94/15, BStBl. II 2020, 755, IStR 2018, 882 mAnm Wacker; s. auch Gosch in KStG/Gosch, 4. Aufl. 2020, KStG § 8 Rn. 187). Mit dem Urteil aus dem Jahr 2023 knüpft der BFH nun wieder an seine langjährige vorherige Rechtsprechung an. Dies verschafft in der Beratungspraxis Rechtssicherheit und ermöglicht eine klare Linie in der Mandantenberatung. Betrachtet man die aktuelle Entscheidung aus der Perspektive des Steuerpflichtigen, wird man diese eher als schlechte Nachricht einstufen müssen. Bei der Mehrzahl der Fälle führt ein Vorrang der vGA zu zwei Besteuerungsebenen aufgrund des möglichen Zuflusses beim Gesellschafter und der Verpflichtung zum Einbehalt von Kapitalertragsteuer.

Als Grundprinzip des Körperschaftsteuerrechts ist für jede Körperschaft der Gewinn getrennt zu ermitteln (Grundsatz der Rechtfertigung der Körperschaftsteuer bzw. Trennungsprinzip, vgl. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 25. Aufl. 2024, Rn. 11.2, 11.70 f.). Folglich stimmt die Rechtsprechung mit der systematischen Positionierung der vGA als zentrale Vorschrift des Körperschaftsteuerrechts überein. Für die steuerliche Beratung ist die vorbeugende und umfassende Beantragung von Freistellungsbescheinigungen innerhalb multinationaler Unternehmensgruppen zu empfehlen, selbst wenn keine offenen Gewinnausschüttungen beabsichtigt sind (so auch Busch DB 2024, 208 (209)).

2. Verrechnungspreisbildung und -verprobung (Standortvorteile)

Zur Ermittlung fremdvergleichskonformer Verrechnungspreise im Rahmen von Lieferungs- und sonstigen Leistungsverhältnissen zwischen verbundenen Unternehmen werden vorrangig die sogen. transaktionsbezogenen Standardmethoden – Preisvergleichsmethode, Wiederverkaufspreismethode, Kostenaufschlagsmethode – angewendet (z.B. Senatsurteile vom 27.11.2019 – I R 40/19 (I R 14/16), BFHE 268, 1; vom 18.05.2021 – I R 4/17, BFHE 273, 440, BStBl II 2023, 678, jeweils m.w.N. aus der Rechtsprechung). Die Klägerin ihrerseits rügt im Revisionsverfahren den Vorrang der Kostenaufschlagsmethode, da dies eine fehlerhafte Anwendung des § 1 Abs. 3 Satz 1 AStG darstelle, der keine Methodenhierarchie vorgesehen habe. Das FG München ging jedoch von der Kostenaufschlagsmethode als einzig anwendbare Methode zur Verrechnungspreisbildung aus. Der BFH betont die vorrangige Anwendung der Standardmethoden für die Bildung der Verrechnungspreise, hier der Kostenaufschlagsmethode. Zugleich spricht sich der BFH – bemerkenswerterweise – für eine Schätzung im Rahmen dieser Methode aus.

Nimmt man die Verprobung in den Blick, ist die Anwendung einer transaktionsbezogenen Methode (TNMM als transaktionsbezogene Nettomargenmethode) naheliegend. Progressiv ist hier, dass der BFH eine derartige Verprobung nicht nur zulässt, sondern deren Fehlen ausdrücklich rügt (BFH, I R 54/19, Rn. 55; vgl. hierzu Neumann/Stollenwerk, DB 2023, 1054 (1055–1057). Denn die Nachholung der Verprobung durch ein Benchmarking (Datenbankanalyse) wurde weder von der Finanzverwaltung noch von der Vorinstanz in Betracht gezogen.

Der BFH fordert, hinsichtlich der Standortvorteile einen einzelfallbezogenen Aufschlagssatz zu wählen. Ein allgemeingültiger Ansatz scheidet somit aus und erteilt der pauschalen Hinzuschätzung iHv 5 % durch das FG München in der ersten Instanz eine Absage (vgl. BFH I R 54/19, Rn. 40 sowie Rn. 56). Zur Berücksichtigung von Standortvorteilen sei demnach zunächst der Umfang der Standortvorteile zu bestimmen und anhand der jeweiligen Funktionen, Risiken, eingesetzten Wirtschaftsgüter und realistisch verfügbaren Handlungsalternativen eine Aufteilung vorzunehmen.

Die Konsequenz der Entscheidung des BFH für die praktische Rechtsanwendung ist eindeutig: Die Bedeutung und sogleich die Häufigkeit der Tatsachenermittlung mittels Benchmarkings steigt an. Ein entsprechendes Benchmarking wäre mehrdimensional aufzustellen. Die Gewinnsituation beider Gesellschaften, der Klägerin und der C, ist zusätzlich zu dem gewählten Kostenaufschlagsatz der Lohnfertigung abzubilden (so ebenfalls Bärsch/Kluge, IWB 2024, 215 (223 f.)). Die Standortvorteile der C sind als Gewinnchancen einzuordnen und stärken die Verhandlungsposition eines Lohn- bzw. Auftragsfertigers an einem Unternehmensstandort mit vergleichsweise geringeren Fertigungskosten.

Die vom BFH vorgenommene Teilung der Standortvorteile – festgemacht am Funktions- und Risikoprofil der ausländischen Einheit – schlägt Wellen in der praktischen Rechtsanwendung. In Übereinstimmung mit Bärsch und Kluge (Bärsch/ Kluge, IWB 2024, 215 (223f)) erscheint es möglich, einen Kostenaufschlagsatz anzuwenden und als fremdvergleichskonform zu rechtfertigen. Die zu erwartende Bandbreite des Aufschlagssatzes unter Einbeziehung der Standortvorteile reicht von 5 bis 50 % zugunsten des Auftragsfertigers.

Der BFH äußerte sich zudem zur Berücksichtigung von Materialkosten eines Produktionsunternehmens im Rahmen der Kostenaufschlagsmethode, wenn der Auftraggeber die zu bearbeitenden Materialien zum Einstandspreis an das Produktionsunternehmen verkauft und nach Bearbeitung zurückkauft. Deren mangelnde Einbeziehung in die Kostenbasis sei dann nicht zu beanstanden, sofern kein eigener Wertschöpfungsbeitrag der Gesellschaft als reines Produktionsunternehmen, das keinerlei Funktionen insbesondere im strategischen Beschaffungsprozess (z.B. Auswahl der Lieferanten, Verhandlung von Preisen, Bestimmung der Qualität, Ermittlung der Menge, Verhandlung der Lieferkonditionen etc.; vgl. hierzu auch Neumann/Stollenwerk, DB 2023, 1054) ausgeübt hat, feststellbar ist.

3. Lohnfertiger vs. Auftragsfertiger: Gesamtbetrachtung

In seinem zweiten Leitsatz beschäftigt sich der BFH mit der Trennungslinie zwischen Lohnfertigung und Auftragsfertigung. Eine Gesamtbetrachtung einzelner Geschäftsvorfälle (hier: Materiallieferung durch die Klägerin und rückläufige Erwerbe des bearbeiteten Materials wiederum durch sie) sei möglich, wenn eine Trennung der Vorgänge dem wirtschaftlichen Gehalt des Geschehens nicht gerecht würde. Nach den bindenden Feststellungen des FG hat die Klägerin das zur Produktion erforderliche Material für C beschafft und diese widerrum bei der Beschaffung des Materials keine nennenswerten Funktionen und Risiken ausgeübt.

Bei der Beantwortung der Frage, ob im vorliegenden Fall eine Auftrags- oder eine Lohnfertigung zu bejahen ist, hat sich der BFH für eine wirtschaftliche Sichtweise entschieden, was für das Steuerrecht nicht untypisch ist. Die Ablehnung einer rechtlichen Sichtweise stimmt sicherlich mit den Erwartungen überein, die aus sachlich neutraler Perspektive an die Entscheidung gestellt werden konnten.

Überdies erkennt der BFH an, dass bei der Lieferung des Materials durch die Klägerin an die ausländische Schwestergesellschaft für deren Drittgeschäft ein explizites Gewinnelement (von z.B. 5 %) vorzusehen sei. Dies wird zur Wahrung des Fremdvergleichsgrundsatzes bei der Gegenüberstellung von Lohn- und Auftragsfertigung ausschlaggebend sein. In Bezug auf die Belieferung von Fremdkunden, hier dem Kunden P, kann die Anwendung der Kostenaufschlagsmethode nur auf diesem Wege in fremdüblicher Weise erfolgen (BFH v. 9.8.2023 – I R 54/19, I R 54/19, Rn. 48, 51; vgl. Neumann/Stollenwerk, DB 2023, 1054 (1055)).

4. Begriffsbestimmung „Funktionsverlagerung“

Im Ergebnis zutreffend hat die Vorinstanz die Verlagerung des Kunden P auf C nicht als Funktionsverlagerung im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 9 AStG eingestuft. § 1 Abs. 1 Satz 2 der Funktionsverlagerungsverordnung (FVerlV) setzt voraus, dass die Funktion ein organischer Teil eines Unternehmens ist, ohne dass ein Teilbetrieb im steuerlichen Sinn vorliegen muss. Dies erfordert die Produktion für einen Kunden als eigenständige Produktion im Unternehmen und damit als organischen Teil des Unternehmens.

Das FG stützt die Ablehnung auf die Konjunktion „und dadurch“ in § 1 Abs. 2 Satz 1 FVerlV, wonach eine kausale Beziehung zwischen der Funktionseinschränkung beim abgebenden und der Funktionsausübung beim aufnehmenden Unternehmen vorliegen müsse (vgl. hierzu Sommer/Kundt/Cock, ISR 2020, 246, 250; Haverkamp/Meinert, Die Unternehmensbesteuerung 2020, 689). Der BFH hinterfragt dieses Normverständnis kritisch, da für die Tatbestandsverwirklichung einer Funktionsverlagerung zunächst unerheblich ist, ob die Funktion im Inland künftig weiterhin uneingeschränkt ausgeübt werden könnte. Ausschlagend sei vielmehr, ob ein fremder Dritter bereit gewesen wäre, für das inländische Steuersubstrat (Funktion als Ganzes) ein Entgelt zu bezahlen. Eine entsprechende Prüfung durch die Vorinstanz ist nicht erfolgt.

Zur Bejahung einer Funktionsverlagerung ist die Übertragung von Wirtschaftsgütern, sonstigen Vorteilen oder Geschäftschancen oder eine kausale Verknüpfung zwischen der Übertragung von Vorteilen im weitesten Sinne und der Übertragung der Befähigung, eine Funktion auszuüben, erforderlich (vgl. FG München v. 16.3.2023 – 10 K 310/19, IStR 2023, 538 Ls. 1). Liegt keines dieser Elemente vor, ist eine Funktionsverlagerung, wie im vorliegenden Rechtsstreit geschehen, abzulehnen. Bei der Prüfung stellt der BFH zudem das Kriterium der organischen Geschlossenheit auf. Um dieses zu erfüllen, wäre wohl eine gewisse organisatorische Trennung der Produktionsabläufe für den Kunden P von der restlichen Produktion notwendig (Reul/Hornstein, IStR 2024, 157 (158)).

Die Finanzverwaltung prägte zuvor einen recht kleinteiligen Begriff der Funktionsverlagerung. Hieraus resultierte ein möglichst weiter Anwendungsbereich. Der BFH stellt sich dieser Definition entgegen und fordert werthaltige Übertragungen. Diese Klarstellung durch den BFH ist aus Sicht der Praxis zu begrüßen. Sie kann als Anknüpfungspunkt im Rahmen des „traditionellen“ Konzeptes der Geschäftschancenverlagerung herangezogen werden (vgl. BFH v. 9.8.2023 – I R 54/19, Rn. 46).

Ferner weist der BFH darauf hin, dass der Einbezug von Plankosten am ehesten geeignet sei, der bei der Ermittlung von Verrechnungspreisen anzuwendenden sogenannten ex-ante-Betrachtung (s.a. § 1 Abs. 3 Satz 4 AStG) gerecht zu werden (BFH Rn. 54).

5. Offene Rechtsfragen

Leider lässt das hiesige Urteil eine Stellungnahme des BFH zur Klassifizierung anhand des Funktions- und Risikoprofils vermissen. Der Senat widmet sich der Frage zur Grenzziehung zwischen Routineunternehmen und einem (lokalen) Entrepreneur nicht. Für den Rechtsanwender folgt die Einstufung ab einem gewissen Funktions- und Risikoprofil damit weiterhin keiner klaren Linie. Von besonderer Brisanz wäre eine (denkbare) Abstufung zwischen den beiden Unternehmenstypen, die in einer Art „Mischtypus“ resultieren würde. Die Einordnung der Einheiten im In- und Ausland innerhalb einer multinationalen Unternehmensgruppe als Routineunternehmen oder routineartige Unternehmen wird erwartungsgemäß ein wiederkehrender Konfliktherd in Betriebsprüfungen bleiben. Es wäre für die Beratungspraxis unter dem Aspekt der Rechtssicherheit dankenswert, wenn jedenfalls die Judikative eine Definition eines Routineunternehmen sowie eine Darstellung der Zwischenformen und Abstufungen zum Entrepreneur anbieten würde.

Fazit | Die Erwägungen des FG zur Methodenwahl sind nach der Auffassung des BFH nicht frei von Rechtsfehlern, insbesondere leidet die Bemessung des Gewinnaufschlagsatzes von 17 % an einem inhaltlichen Mangel. Der BFH beanstandet die Führung der Angemessenheitsprüfung durch Beklagten und FG. Nach dem Urteil vom v. 9.8.2023 sei diese reversibel und nach neuen Tatsachenfeststellungen durch das FG München zu wiederholen. Inhaltlich hat sich das beklagte Finanzamt mit seiner Definition einer Funktionsverlagerung nicht durchgesetzt. Jedoch wird der Beklagte das statuierte Rangverhältnis der Korrekturvorschriften sicherlich als positiv werten.

Kern des Urteils bildet die Herausarbeitung des Subsidariätsverhältnis von § 1 Abs. 1 AStG gegenüber anderen Einkünftekorrekturvorschriften. Die Umsetzung des nun richterlich festgelegten Systemverhältnisses zwischen den aufgezeigten Korrekturvorschriften durch die Finanzverwaltung ist zu erwarten. Von außen betrachtet fehlt bis dato ein abgestimmter Ansatz.

Das Urteil ebnet den Weg zur Verprobung der Verrechnungspreisbildung mit Datenbankstudien. Auch in dieser Hinsicht wird die Finanzverwaltung mit Neuerungen konfrontiert werden. Insofern bleibt die weitere Entwicklung abzuwarten. Insgesamt wird die Finanzverwaltung die vom BFH normierten Direktiven nicht beiseiteschieben können und zugleich die weite Definition einer Funktionsverlagerung ablegen müssen. Um Sicherheit in der Beratungspraxis herbeizuführen, ist die Anpassung die entsprechenden Regelungen in der Neufassung der FVerlV und in den Verwaltungsgrundsätzen Verrechnungspreise 2023 vom Gesetzgeber bzw. von Seiten der Finanzverwaltung wünschenswert.

Bislang entfaltet die Entscheidung ausschlieβlich Wirkung inter partes. Eine Veröffentlichung des wegweisenden Urteils im BStBl. steht noch aus.