Plädoyer für eine Stärkung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
Die Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung für die Steuerbilanz nach § 5 Abs. 1 EStG ist ein „Dauerbrenner“ in der Diskussion der Unternehmensbesteuerung (vgl. zur aktuellen Diskussion z.B. Prinz in Prinz/Kanzler, Handbuch Bilanzsteuerrecht, 3. Aufl. 2018, S. 69 ff.). Bisher vorgelegte Entwürfe eines eigenständigen steuerlichen Gewinnermittlungsrechts wurden vom Gesetzgeber aber nicht berücksichtigt (vgl. im Überblick Anzinger in HHR, § 5 EStG Rz. 175 ff.). Die Forderung nach einem eigenständigen Bilanzsteuerrecht wird aber nach wie vor erhoben (vgl. z.B. Prinz, StuB 2019, S. 7 f.; Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 37. Aufl. 2018, § 5 EStG Rz. 1).
Zum Status quo des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
Die Maßgeblichkeit ist mit der Aufgabe der formellen Maßgeblichkeit im Zuge des BilMoG deutlich entwertet worden; der neu eingefügte § 5 Abs. 1 Satz 1 2. Halbs. EStG ermöglicht eine von den handelsrechtlichen GoB abweichende Ausübung steuerlicher Wahlrechte. Er sollte mit Blick auf die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sowie der Bestimmtheit auf sog. Steuerbegünstigungswahlrechte begrenzt werden.
Neben der materiellen Maßgeblichkeit des § 5 Abs. 1 Satz 1 1. Halbs. EStG und dem steuerlichen Wahlrechtsvorbehalt des § 5 Abs. 1 Satz 1 2. Halbs. EStG enthält das EStG inzwischen weitere „Sonderausprägungen der Maßgeblichkeit“ (Prinz in Prinz/Kanzler, Handbuch Bilanzsteuerrecht, 3. Aufl. 2018, Rz. 332). So sind die Ergebnisse der in der handelsrechtlichen Rechnungslegung zur Absicherung finanzwirtschaftlicher Risiken gebildeten Bewertungseinheiten auch für die steuerliche Gewinnermittlung maßgeblich (§ 5 Abs. 1a Satz 2, Abs. 4a Satz 2 EStG). Weitere Sonderausprägungen betreffen vor allem die Herstellungskosten im Sinne des § 255 Abs. 2 Satz 3 HGB (formelle Maßgeblichkeit nach § 6 Abs. 1 Nr. 1b Satz 2 EStG) und die nach der Auffassung der Finanzverwaltung bestehende formelle Maßgeblichkeit bei den Fremdkapitalzinsen nach § 255 Abs. 3 Satz 2 HGB (R 6.3 Abs. 5 Satz 2 EStR).
Ohne Frage ist das Bilanzsteuerrecht seit dem BilMoG sehr unsystematisch geworden und von Einzelregelungen geprägt. Ein markantes Beispiel strittiger Fragen ist die Bewertung von Rückstellungen in der Steuerbilanz, die nach der Auffassung der Finanzverwaltung – außer bei Pensionsrückstellungen – auf den in der Handelsbilanz zulässigen Ansatz beschränkt ist (R 6.11 Abs. 3 Satz 1 EStR, Deckelung der Rückstellun-gen).
Das Bilanzsteuerrecht enthält Einzelvorschriften, die bewusst nur aus Gründen des Staatshaushalts in das EStG eingefügt wurden und eindeutig Verstöße gegen die GoB darstellen. Diese Regelungen rufen dann aber womöglich unerwünschte Steuergestaltungen hervor, auf die der Gesetzgeber widerum reagiert. So können als ein weiteres Beispiel für „systemwidrige Friktionen im Steuerbilanzrecht“ die Regelungen zu den angeschafften Rückstellungen (§§ 4f, 5 Abs. 7 EStG) angeführt werden (im Einzelnen Prinz/Otto, GmbHR 2018, S. 497 ff.; Kahle/Braun, FR 2018, S. 197 ff.). Diese Regelungen betreffen die entgeltliche Übertragung der mit stillen Lasten behafteten Verpflichtungen.
Beachte | Steuerliche Ansatz- und Bewertungsvorschriften, die den GoB widersprechen und zu stillen Lasten führen (z.B. § 5 Abs. 4 EStG, § 6a EStG), werden durch zwei weitere systemwidrige Regelungen, also §§ 4f, 5 Abs. 7 EStG, abgesichert.
Es ist derzeit unwahrscheinlich, dass die IFRS in den Einzelabschluss übernommen werden; allerdings wird vereinzelt gefordert, die IFRS mittelfristig auch befreiend für den Einzelabschluss zuzulassen (vgl. Schmid, DB 2017, S. 377 m.w.N.). In diesem Fall wäre eine Aufgabe des Maßgeblichkeitsgrundsatzes unausweichlich. Die bislang schon bestehenden „Einfallstellen“ der IFRS in das Steuerbilanzrecht (vgl. Kahle in Prinz/Kanzler, Handbuch Bilanzsteuerrecht, 3. Aufl. 2018, Rz. 3046 ff.) sind nur punktuell und machen alleine eine Aufgabe der Maßgeblichkeit nicht notwendig.
Zur Zukunft des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
Durch ein eigenständiges Bilanzsteuerrecht könnte kaum eine spürbare ökonomische Verbesserung erreicht werden. Denn ein eigenständiges Steuerbilanzrecht unter Verlustausgleichsbeschränkungen sollte nicht viel anders aussehen als das HGB (unter Beachtung der Gewinnanspruchs-GoB), da in diesem Fall insbesondere auf das Imparitätsprinzip und eine ausreichende Rückstellungsbildung nicht verzichtet werden kann (vgl. Kahle, DStZ 2017, S. 913). Ob eine originäre steuerliche Gewinnermittlung kodifiziert werden sollte, ist in dieser Konstellation eher eine formelle Frage.
Auch in einem eigenständigen Steuerbilanzrecht müssten allgemeine Grundsätze der Bilanzierung kodifiziert werden (vgl. Meyering/Gröne, StuW 2018, S. 33 f.). Hier stieße man wiederum auf das Problem der Offenheit des Leistungsfähigkeits-prinzips als Deduktionsbasis steuerlicher Gewinnermittlungsregeln. Ein eigenständiges Steuerbilanzrecht würde sich in den zentralen Regelungsaspekten vermutlich sehr stark am Handelsbilanzrecht orientieren.
In Deutschland existiert ein gut ausgebautes System von Bilanzierungsregeln, auf die das Steuerrecht zurückgreifen kann. Dieser Weg dient der Rechtssicherheit. Die GoB sind Rechtsnormen. Die Bindung der steuerlichen Gewinnermittlung an die handelsrechtlichen GoB erweist sich nur unter dem Gesichtspunkt der Objektivierung der Rechnungslegung als stabil. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz ist – wie bei seiner Entstehung – als Vereinfachungsregel aufzufassen, die ein unnötiges und kompliziertes Nebeneinander von Gewinnermittlungsregeln vermeiden soll. Umgekehrt ist der Maßgeblichkeitsgrundsatz auch für das Handelsbilanzrecht von Vorteil. Denn es gibt den Finanzgerichten die Möglichkeit, „das Handelsbilanzrecht durch eine Fülle von gerichtlichen Äußerungen mit rechtsstaatlichen Konturen zu versehen“ (Schön, StuW 2018, S. 209).
Im Falle einer Beibehaltung der geltenden Verlustausgleichsbeschränkungen sollte eine Wiederannäherung des Steuerbilanzrechts an die handelsrechtlichen GoB angestrebt werden. Der Vereinfachungsaspekt bleibt weiterhin tragend. Zahlreiche Durchbrechungen der Maßgeblichkeit „sind schlicht fiskalisch motiviert, aber steuerbilanz-systematisch nicht gerechtfertigt“ (Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 9 Rz. 114). Zur Stärkung der Idee der Einheitsbilanz muss bei der Steuerbilanz, nicht bei der Handelsbilanz angesetzt werden. Ein Festhalten an der Maßgeblichkeit (unter der Prämisse einer Überarbeitung der aus ökonomischer Sicht nicht gerechtfertigten Durchbrechungen sowie eines Überdenkens des überschießenden steuerlichen Wahlrechtsvorbehalts) wäre auch eine durchaus akzeptable Lösung auf absehbare Zeit.
Ausblick | Mit Blick auf die Kostenersparnis und Einfachheit sollte die Idee der Einheitsbilanz wieder gestärkt und damit das Bilanzsteuerrecht näher an das Handelsbilanzrecht gerückt werden, indem „die überbordenden und systematisch angreifbaren steuerlichen Sondervorschriften wieder auf ein Mindestmaß“ (Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 9 Rz. 114) zurückgeschnitten werden. Dies bedingt, dass der Steuergesetzgeber systemtragenden Prinzipien des Bilanzsteuerrechts wieder mehr Bedeutung zukommen lässt.