European Insolvency & Restructuring Grenzüberschreitende Insolvenz
Reinhard Bork

Zuständigkeitsklärung in Europa nach dem Brexit

Im praktischen Wirtschaftsleben wirkt sich der Brexit seit dem 1. Januar 2021 unmittelbar aus, manchmal heftiger, manchmal milder als erwartet. Im Rechtsleben werden die Fälle, die das deutsch-englische Rechtsverhältnis in der Nach-Brexit-Ära testen, noch etwas auf sich warten lassen. Dass es aber sicher nicht leichter wird, mag ein aktueller Fall veranschaulichen, der sowohl die deutschen als auch die englischen Gerichte beschäftigt hat.

Verfahren vor deutschem und englischem Gericht

Der klagende Insolvenzverwalter einer ausschließlich in Deutschland tätigen englischen public limited company nahm deren Gesellschafterin, eine Aktiengesellschaft nach dem Recht der Vereinigten Emirate, vor dem Landgericht Berlin auf Zahlung aus einer Patronatserklärung in Anspruch. Die Beklagte berief sich auf eine Gerichtsstandsklausel, die in einem zwischen den Parteien geschlossenen Darlehensvertrag enthalten war und der zufolge die englischen Gerichte für alle Rechtsstreitigkeiten aus dem Vertrag zuständig sein sollten. Der Kläger hielt dem entgegen, diese Gerichtsstandsklausel betreffen nur den Darlehensvertrag, nicht aber die Patronatserklärung.

Nachdem die Klage am 25. Juli 2018 rechtshängig geworden war, erhob die Beklagte ihrerseits am 22. Januar 2019 vor dem High Court in London Klage gegen den Insolvenzverwalter mit den Anträgen, festzustellen, dass die deutschen Gerichte nicht zuständig seien und sie (die dortige Klägerin) aus der Patronatserklärung nichts schulde. Zugestellt wurde diese Klage im Februar 2019. 

In beiden Verfahren beantragten die jeweiligen Beklagten, das Verfahren bis zur endgültigen Entscheidung des jeweils anderen Gerichts über seine Zuständigkeit auszusetzen. Der Antrag des deutschen Insolvenzverwalters wurde vom High Court am 18. November 2019 zurückgewiesen mit der Begründung, es spreche viel dafür, dass die Gerichtsstandsklausel auch Ansprüche aus der Patronatserklärung erfasse. Das dagegen eingelegte Rechtsmittel zum Court of Appeal hatte keinen Erfolg. Umgekehrt folgte das LG Berlin dem Aussetzungsantrag der Beklagten mit Beschluss vom 13. Mai 2020. Die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde des Insolvenzverwalters wurde vom Kammergericht mit Beschluss vom 3. Dezember 2020 zurückgewiesen.

Kompetenz-Kompetenz schützt vor „Torpedoklagen“

Nach Art. 31 Abs. 2 EuGVVO (Brüssel Ia-VO) setzt das Gericht eines Mitgliedstaates das bei ihm anhängige Verfahren aus, wenn auf der Grundlage einer Gerichtsstandsvereinbarung das Gericht eines anderen Mitgliedstaates angerufen worden ist, und zwar so lange, bis dieses Gericht seine Zuständigkeit verneint hat. Das Prioritätsprinzip (es entscheidet das zuerst angerufene Gericht) wird also zugunsten einer Kompetenz-Kompetenz des vereinbarten Gerichts zurückgestellt. Sinn dieser Regelung ist es, die sowohl im nationalen als auch im internationalen Zivilprozessrecht anerkannten Gerichtsstandsvereinbarungen vor „Torpedoklagen“ in anderen Mitgliedstaaten zu schützen. 

Bei einem reinen EU-Sachverhalt hätte diese Vorschrift keine Schwierigkeiten bereitet: Die deutschen Gerichte mussten aussetzen, bis die in der Zuständigkeitsvereinbarung berufenen englischen Gerichte über ihre Zuständigkeit – und das heißt hier: über die Anwendung der Gerichtsstandsklausel auf die Ansprüche aus der Patronatserklärung – entschieden hatten. Nun war dieser Fall aber bei Entscheidung des LG Berlin am 13. Mai 2020 (anders als bei Entscheidung des High Court am 18. November 2019) kein reiner EU-Sachverhalt mehr, denn mit Wirkung vom 31. Januar 2020 war das Vereinigte Königreich aus der EU ausgeschieden. Gleichwohl konnten die deutschen Gerichte Art. 31 Abs. 2 EuGVVO noch anwenden, denn das Abkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich über dessen Austritt aus der Europäischen Union bestimmt in seinem Art. 67 Abs. 1, dass in vor dem 31. Dezember 2020 eingeleiteten Verfahren mit Bezug zum Vereinigten Königreich die Zuständigkeitsbestimmungen der EuGVVO weiterhin anzuwenden sind. Da das Verfahren hier im Juli 2018 und damit vor dem Ende des Übergangszeitraums eingeleitet worden war, blieb es also bei der Anwendung des Art. 31 Abs. 2 EuGVVO.

Künftige Rechtsstreitigkeiten dieser Art

Was aber gilt für künftige Rechtsstreitigkeiten dieser Art, wenn sie erst nach dem 31. Dezember 2020 eingeleitet und deshalb vom Austrittsabkommen nicht erfasst werden? Die Frage ist nicht nur von akademischem Interesse, denn nach England verweisende Gerichtsstandsklauseln finden sich in internationalen Wirtschaftsverträgen häufig. Da die „Justizindustrie“ in London für die englische Volkswirtschaft von ganz erheblicher Bedeutung ist, hat das Vereinigte Königreich natürlich ein großes Interesse an der Wirksamkeit und am Schutz von Gerichtsstandsvereinbarungen. Die Antwort ist freilich ernüchternd, denn in dem am 1. Januar 2021 in Kraft getretenen Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich findet sich dazu nichts, so dass man insoweit durchaus von einem „harten Brexit“ sprechen kann.

Großbritannien hat zwar beantragt, dem Lugano-Übereinkommen beizutreten, das die EU mit Dänemark, Island, Norwegen und der Schweiz abgeschlossen hat. Diesem Antrag ist aber bislang noch nicht stattgegeben worden. Außerdem enthält das Lugano-Übereinkommen keine dem Art. 31 Abs. 2 EuGVVO entsprechende Vorschrift. Vielmehr regelt sein Art. 28 nur, dass das später angerufene Gericht das vor ihm anhängige Verfahren aussetzen muss. Es gilt also hier noch das Prioritätsprinzip. 

Allerdings ist das Vereinigte Königreich seit dem 28. September 2020 Vertragsstaat des Haager Gerichtsstandsübereinkommens. Dieses bestimmt in seinem Art. 6, dass das Gericht eines Vertragsstaats, der nicht der Staat des vereinbarten Gerichts ist, das vor ihm anhängige Verfahren, für das eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung gilt, aussetzt oder die Klage als unzulässig abweist. Das erspart den Rückgriff auf das deutsche Internationale Zivilprozessrecht, denn die ZPO kennt eine vergleichbare Aussetzungspflicht nicht.

Zum Schluss Man sieht also an dem kleinen Beispiel, dass es mit dem Brexit – von Übergangsfällen abgesehen – deutlich mühsamer geworden ist, sich einen Weg durch den Dschungel des internationalen Zivilprozessrechts zu bahnen. Es ist gleichwohl nicht ausgeschlossen, dass man auf neuen Pfaden zum selben Ergebnis kommt wie früher.