Global Taxes Europäisches Steuerrecht
Steffen Lampert

Auf dem Weg zu einem einheitlichen unionsrechtlichen Missbrauchsbegriff?

In einer Reihe verbundener Rechtssachen (C-116/16 und C-117/16 sowie C-115/16, C-118/16, C-119/16 und C-299/16) liegt dem EuGH einmal mehr die Frage vor, ob (in diesem Fall dänische) Anti-treaty- bzw. Anti-directive-shopping-Regelungen mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Von Interesse ist die anstehende Entscheidung nicht allein im Hinblick auf die weitere Justierung der Grenze zwischen missbräuchlicher und zulässiger Steuergestaltung. Auch und vor allem könnte sie die Entwicklung eines einheitlichen unionsrechtlichen Verständnisses des Begriffes des Missbrauchs steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten voranbringen.

Unterschiedliche Auffassungen von „Missbrauch“?

An einem solchen Verständnis fehlt es bislang. Dabei sind es weniger die unterschiedlichen Ausprägungen der allgemeinen Missbrauchsbekämpfungsbestimmungen des sekundären Unionsrechts (wie etwa in Art. 1 Abs. 2 Mutter-Tochter-Richtlinie, Art. 5 Abs. 2 Zins-Lizenzgebühren-Richtlinie oder Art. 6 Abs. 1 Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken, kurz ATAD), welche das Bild eines in sich wenig konsistenten Ansatzes vermitteln. Denn zumindest die genannten Bestimmungen sehen – wenn auch in abweichender Terminologie – einen „principle purpose test“ vor. Daneben stellt der EuGH weiterhin darauf ab, ob eine „rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktion“ vorliegt (aus jüngerer Zeit z.B. Urt. v. 20.12.2017, Deister Holding und Juhler Holding – C-504/16 und C-613/16, Rn. 60 und Urt. v. 7.9.2017, Eqiom und Enka – C-6/16, Rn. 30). Dies wirft die Frage auf, ob wir es mit zwei unterschiedlichen Auffassungen von „Missbrauch“ zu tun haben – einem eher weiten, von Kommission und Mitgliedstaaten vertretenen Ansatz und einem eher engen und damit freiheitsschonenderen Ansatz des EuGH.

Integrierter Missbrauchsbegriff

Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass Generalanwältin Kokott sich in den Schlussanträgen zu den eingangs genannten Rechtssachen im März dieses Jahres für eine Synthese beider Ansätze ausgesprochen hat. Ihrer Auffassung nach verliert das Abstellen auf den Topos der „rein künstlichen, jeder wirtschaftlichen Realitäten baren Konstruktion“ gegenüber dem Ziel der Erlangung eines Steuervorteils tendenziell an Bedeutung. Darauf, dass auch der EuGH – wenn auch eher beiläufig – in diese Richtung tendiert, deutet die Entscheidung in der Rs. Cussens hin. Darin sah der EuGH in einer rein künstlichen Gestaltung ein Indiz dafür, dass das primäre Ziel einer Gestaltung die Erlangung steuerlicher Vorteile ist (Urt. v. 22.11.2017 – C-251/16, Rn. 60).

Beachte | Die Doktrin von der „rein künstlichen“ Gestaltung könnte so in einem Missbrauchsverständnis, das letztlich danach fragt, ob der Steuerpflichtige hauptsächlich einen Steuervorteil anstrebt, aufgehen.

Fazit und Ausblick | Was aber wären die Folgen eines derartigen integrierten Missbrauchsbegriffs, dessen Vorzug auch darin liegt, dass er ans nationale Recht (wie etwa § 42 Abs. 2 AO) und abkommensrechtliche (LOB-) Klauseln „andocken“ würde? Die Frage, ob eine rein künstliche Gestaltung vorliegt, wäre dann lediglich Einstieg in die Prüfung des Vorliegens einer missbräuchlichen Gestaltung. Liegt eine rein künstliche Gestaltung vor, ist ein Missbrauch indiziert. Liegt eine solche Gestaltung dagegen nicht vor, so ist zu klären, ob der Steuerpflichtige gleichwohl aus primär steuerlichen Motiven handelt. Insoweit kommt es etwa nach Art. 6 Abs. 1 ATAD darauf an, ob der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke der Gestaltung darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderläuft. Erlangt der Steuerpflichtige durch die Gestaltung – etwa das Einschalten einer Zwischengesellschaft – keinen steuerlichen Vorteil gegenüber dem Zustand, der ohne diese Gestaltung bestünde, so läge ebenso kein Missbrauch vor.

Und in allen anderen Fällen? Hier ist im Einzelfall zu klären, was überhaupt Ziel oder Zweck der „umgangenen“ Regelung ist. Hieraus ist indes nicht ohne Weiteres zu folgern, dass sich letztlich der „weite“ Missbrauchsbegriff durchsetzen wird. Denn auch bei einem integrierten Missbrauchsverständnis hat der EuGH das letzte Wort, sodass vorerst nicht zu erwarten ist, dass es zu einer schleichenden Aufweichung der Rspr. zu den Grundfreiheiten kommen wird.