Global Taxes Doppelbesteuerungsabkommen
Michael Beusch

Der EuGH – ein weiterer Akteur bei der Auslegung von DBA

Am 12.09.2017 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Rechtssache C-648/15 das Urteil über die am 3.12.2015 von der Republik Österreich gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereichte Klage gefällt. Das Urteil war aus verschiedenen Gründen gespannt erwartet worden. So war die entsprechende Rechtssache die erste, in der ein Mitgliedstaat – hier die Republik Österreich – beim EuGH gemäß Art. 273 AEUV eine „mit dem Gegenstand der Verträge in Zusammenhang stehende Streitigkeit“ zwischen ihm und einem anderen Mitgliedstaat – hier der Bundesrepublik Deutschland – „aufgrund eines Schiedsvertrags anhängig gemacht“ hat.

Der EuGH hat seine Zuständigkeit bejaht, nicht ohne daran zu erinnern, dass er nicht für jede wie auch immer geartete Streitigkeit als Schiedsgericht bezeichnet werden kann, sondern nur für solche, die „mit dem Gegenstand der Verträge im Zusammenhang“ stehen. Derlei sei „in Anbetracht der positiven Wirkung, die eine Abmilderung der Doppelbesteuerung auf das Funktionieren des Binnenmarkts hat, dessen Verwirklichung die Union gemäß Art. 3 Abs. 3 EUV und Art. 26 AEUV zum Ziel hat, hier offenkundig der Fall“ (Urteil Rz. 19 ff.).

Auslegung von „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“

Von großem Interesse ist sodann selbstredend auch die Beantwortung der dem EuGH inhaltlich unterbreiteten Frage. Bei dieser geht es um die Auslegung und Anwendung von Art. 11 des DBA zwischen Österreich und Deutschland. Über die Besteuerung von Zinserträgen aus Genussscheinen, welche eine in Österreich ansässige Bank von einer deutschen Bank erworben hatte, bestand Uneinigkeit, ein geradezu klassischer Qualifikationskonflikt. Der EuGH gelangte zum Schluss, dass der in Art. 11 Abs. 2 des erwähnten DBA verwendete Begriff „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ dahin auszulegen sei, dass er Wertpapiere wie die im vorliegenden Fall in Rede stehenden nicht umfasse, und wies damit im Ergebnis das entsprechende Besteuerungsrecht Österreich zu. Bei alledem folgte der EuGH den Anträgen von Generalanwalt Mengozzi vom 27.04.2017.

Die nachfolgenden Zeilen gehen nun freilich nicht weiter auf die inhaltlichen Aussagen des EuGH ein – etwas, was einem Schreibenden aus der Schweiz ohnehin nur schwerlich zustände. Ein Blick geworfen werden soll vielmehr auf die Auslegung von DBA und damit auf etwas, womit jedes mit DBA-Fragen befasste Gericht auf der Welt zu tun hat. Zu diesen Kreisen hat sich mit dem vorliegenden Urteil nämlich auch der EuGH gesellt. Wohl hat sich dieser auch in früheren Urteilen mit DBA befasst, dann allerdings stets im Zusammenhang mit der Frage, ob Rechtsnormen der Mitgliedstaaten, zu denen aus EuGH-Sicht auch von den Mitgliedstaaten abgeschlossene DBA gehören, mit den Normen „des Europarechts“ vereinbar sind.

Beachte | Eine „klassische DBA-Auslegung“ war damit aber regelmässig nicht verbunden.

Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen

Die Auslegung von DBA als Staatsverträgen zwischen souveränen Parteien folgt (zumindest teilweise) anderen Grundsätzen als das unilaterale Recht, nämlich grundsätzlich denjenigen des Wiener Übereinkommens vom 23.05.1969 über das Recht der Verträge (VRK). Gemäss der in Art. 31 VRK statuierten allgemeinen Auslegungsregel sind der Wortlaut der vertraglichen Bestimmung gemäss seiner gewöhnlichen Bedeutung, Ziel und Zweck des Vertrags, Treu und Glauben sowie der Zusammenhang gleichrangigerweise einschlägig. Materialien wie etwa vorbereitende Arbeiten sowie Begleitwerke wie der im internationalen Steuerrecht über grosse Bedeutung verfügende Kommentar zum OECD-Musterabkommen können nach Art. 32 VRK nur subsidiär dann herangezogen werden.

In der vorliegenden Konstellation ist dies freilich anders, findet sich doch in Nr. 16 des Protokolls zum DBA zwischen Österreich und Deutschland der Passus, „dass den Bestimmungen des österreichisch-deutschen Abkommens, die nach den entsprechenden Bestimmungen des von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erarbeiteten Musterabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen abgefasst sind, allgemein dieselbe Bedeutung zukommt, die im Kommentar zu den Artikeln dieses Musterabkommens dargelegt wird. Weiter heißt es in Nr. 16 des Protokolls, dass der Kommentar eine Hilfe zur Auslegung des österreichisch-deutschen Abkommens im Sinne des Wiener Übereinkommens darstellt“ [Urteil Rz. 10]). Folgerichtig muss(te) auf den Stellenwert des Kommentars zum OECD-Musterabkommen nicht weiter eingegangen werden (Antrag Generalanwalt Rz. 73).

Fazit | Wie bereits angetönt: Traditionellerweise werden DBA von den Gerichten der beiden Vertragsstaaten ausgelegt. Wiewohl sich diese Instanzen bei der durch sie vorzunehmenden Auslegung auf die nämlichen rechtlichen Grundlagen, die VRK, stützen: Solange es an einem supranationalen Gericht als übergeordnete Instanz mit Deutungshoheit fehlt, sind Fälle der unterschiedlichen Auslegung ein- und derselben Abkommensvorschrift nicht ausgeschlossen, wenn nicht gar systemimmanent. Vor diesem Hintergrund haben Auslegungen durch den EuGH, der eben gerade über diese supranationale Deutungshoheit verfügt, großes Potenzial zu einer über die Europäische Union hinausreichenden Bildung eines gemeinsamen Verständnisses von Abkommensregelungen und damit zur Schaffung einer erwünschten internationalen Entscheidungsharmonie. Dies gilt umso mehr, wenn wie vorliegend einer „Flucht in die lex fori“ eine Absage erteilt (Urteil Rz. 34 ff.) und eine vertragsautonome Auslegung vorgenommen wird.