Ghetto-Entschädigungszahlungen: Ein Lehrstück zum Verhältnis zwischen Scham und Pragmatismus im Steuerrecht
Im Jahr 2002 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto („Ghettorentengesetz“; BGBl. I 2002, 2074). Nachdem das Bundessozialgericht 1997 (BSG, Urt. v. 18.6.1997, NJW 1998, 2309) Tätigkeiten in einem Ghetto als ordentliches Arbeitsverhältnis ansah, war der Gesetzgeber gezwungen, die Arbeit in einem solchen Ghetto – ob nun eher freiwillig oder mittelbar erzwungen – anzuerkennen und daraus auch die Folgerungen für die jeweiligen Rentenansprüche zu ziehen.
Zähes Prozedere bei der Gesetzesumsetzung
Die Umsetzung des Gesetzes litt zunächst unter einer extrem restriktiven Verwaltungspraxis. So ging die Verwaltung davon aus, dass Rente nur für freiwillige Arbeit gezahlt werden müsse, während Ghettoarbeit als Zwangsarbeit angesehen wurde, die bereits durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) abgegolten worden war. Allerdings handelte es sich bei dieser Stiftungsleistung um eine relativ geringfügige Einmalzahlung. Das Bundessozialgericht hat aber im Juni 2009 (BSG, Urt. v. 2.6.2009, NJW 2010, 1224) die Auslegung des Gesetzes in einigen wichtigen Punkten zugunsten der Begünstigten verändert.
In Deutschland sind die Ghettorenten steuerfrei, da in der Berechnung rentenrechtliche Zeiten aufgrund von Verfolgung enthalten sind (§ 3 Nr. 8a EStG). Das bedeutet natürlich nicht, dass in grenzüberschreitenden Fällen die Renten nicht im Wohnsitzstaat des Empfängers besteuert werden können. Einige Doppelbesteuerungsabkommen sehen aber vor, dass Leistungen, die im Zusammenhang mit der Verfolgung während der NS-Zeit geleistet werden, im Wohnsitzstaat nicht besteuert werden dürfen. Das gilt etwa für das DBA Polen, wo es allerdings Probleme gab, da die Überweisungen an die Empfänger nicht als NS-Verfolgungszahlungen gekennzeichnet waren. Inzwischen bestätigt die deutsche Rentenversicherung den in Polen lebenden Berechtigten von Amts wegen, dass es sich bei den Ghetto-Renten um Leistungen handelt, die aufgrund von NS-Verfolgung gezahlt werden (vgl. Antwort des BMA,S Arbeitsnr. 145 v. 28.9.2015, auf die Anfrage der Abgeordneten Azize Tank).
Besteuerung in den Niederlanden
In den Niederlanden gibt es etwa 150 Empfänger von Ghetto-Entschädigungszahlungen. Das liegt vor allem daran, dass Amsterdam von deutscher Seite als Ghetto anerkannt worden ist und es dort einige Betriebe gab, die Bewohner mehr oder weniger zwangsweise beschäftigten. Ähnlich wie das DBA Polen enthalten die Abkommen zwischen Deutschland und den Niederlanden (1959: Art. 12 Abs. 3 Nr. 2; 2012: Art. 17 Abs. 4) eine spezielle Regelung für NS-Verfolgungszahlungen. Das niederländische Finanzministerium ging insofern davon aus, dass es sich um solche Renten handelte, die im Grunde nur im Kassenstaat besteuert werden können.
Nach nationalem Steuerrecht wurden die Ghetto-Zahlungen allerdings im Grunde als steuerpflichtig angesehen, was zur Anwendung des Progressionsvorbehalts führt (was in den Niederlanden auch Auswirkungen auf Sozialleistungen haben und u.U. selbst zum Wegfall staatlicher Vergünstigungen führen kann).
Die Qualifizierung der Zahlungen im niederländischen Steuerrecht ist dem deutschen Leser vertraut. Als 1942 während der deutschen Besatzung das niederländische Steuerrecht reformiert wurde, war der deutsche Einfluss auf die Reform enorm. So gelang auch der Begriff der „wiederkehrenden Bezüge“ ins niederländische Steuerrecht („periodieke uitkeringen“) und ist dort noch immer vorhanden. Rechtstheoretisch ist es interessant, wie sich derselbe Begriff in unterschiedlichen Rechtssystemen unterschiedlich entwickeln kann. In den Niederlanden sind die wiederkehrenden Bezüge zu einer echten Auffangnorm geworden und es wird jede periodische Zahlung besteuert, die das Vermögen des Steuerpflichtigen mehrt (mit der Ausnahme einiger gesetzlich geregelter Steuerbefreiungen). Aus diesem Grund werden beispielsweise auch Elterngeldzahlungen bei einem niederländischen Grenzgänger besteuert (was natürlich dazu führt, dass kein niederländischer Grenzgänger eine Babypause machen wird). Vollständig freigestellt sind allerdings bestimmte Zahlungen aus öffentlichen Kassen wie z.B. Vergütungen von Krankheitskosten.
Hinweis | Auch Zahlungen ausländischer öffentlicher Kassen können unter die Freistellung (ohne Progression) fallen, wenn sie mit den aufgezählten niederländischen Leistungen vergleichbar sind.
Auf die Anfrage eines Abgeordneten des niederländischen Parlaments hin war der zuständige Staatssekretär nicht bereit, die Frage nach der Vergleichbarkeit zu beantworten. Vielmehr wies er auf die Souveränität der Niederlande in Steuersachen hin, man sei an die deutsche Entscheidung, die Ghetto-Zahlungen nicht bei der Besteuerung zu berücksichtigen, nicht gebunden. Auch bestehe die Gefahr einer Präzedenzwirkung. Würde man hier die Freistellung bejahen, könnten sich auch andere Personen auf diese Entscheidung berufen. Die Entscheidung solle letztlich den Gerichten überlassen bleiben. Insofern muss man allerdings wissen, dass der Hoge Raad schon früher Zahlungen an Verfolgte des Naziregimes als im Grunde steuerpflichtig ansah.
Beachte | Die Entscheidung wurde jedoch von der Regierung durch Beschluss korrigiert: zwar hätte Moral im Steuerrecht nichts zu suchen, es handle sich aber um Wiedergutmachungsleistungen und nicht um echte steuerpflichtige Einkünfte (Brief des Finanzstaatsekretärs v. 14.3.2012, V-N 2012/18.5).
Beweggründe sollten einbezogen werden
Die Entscheidung des Staatssekretärs ist mit einem gesunden Rechtsgefühl kaum zu vereinbaren. Insbesondere fällt auf, dass die Beweggründe, die in Deutschland zur Zahlung von Ghetto-Leistungen führten, keinerlei Rolle spielen. Tatsache ist, dass die betroffenen Personen in elenden Umständen in einem Ghetto eingeschlossen waren. Arbeiten im Ghetto war eine der wenigen Möglichkeiten, die Lage des Einzelnen etwas zu verbessern und wenn es nur die Versorgung mit einigen Lebensmitteln war. Selbst wenn die Arbeit vergütet wurde, mussten die Löhne an den Judenrat abgeführt werden, der die Einnahmen in die Versorgung des gesamten Ghettos stecken musste.
In einem gemeinsamen Europa sollten solche Beweggründe bei eigenen steuerlichen Entscheidungen sicherlich eine Rolle spielen, auch wenn die Berufung auf die Souveränität nicht von der Hand zu weisen ist. Ghetto-Zahlungen sind ein Extrembeispiel, aber die Frage der Vergleichbarkeit steuerfreier Einkünfte innerhalb Europas ist ein häufig anzutreffendes Problem, das immer wieder die Gerichte beschäftigt. Man kann beispielsweise an die Diskussion um § 3 Nr. 26 EStG denken, der früher die Steuerfreiheit auf Zahlungen inländischer Auftraggeber beschränkte (EuGH v. 18.12.2007, „Jundt“, C-281/06; Sammlung 2007 I-12231; BFH v. 22.7.2008, VIII R 101/02, BStBl. II 2010, 265). Ganz aktuell hat ein belgisches Gericht dem EuGH die Frage vorgelegt, ob eine Arbeitsunfähigkeitsrente eines belgischen unbeschränkt Steuerpflichtigen auch dann steuerfrei sein muss, wenn die Rente nicht vom belgischen Staat, sondern von einem anderen EU-Staat gezahlt wird (Vorlage des erstinstanzlichen Gerichts Lüttich v. 12.1.2019; Az. beim EuGH C-35/19).
Hinweis | Es wäre dringend notwendig, dass diese Fragen auf europäischer Ebene durch eine Richtlinie einheitlich geregelt würden.
Zum Schluss | Die auch in den Niederlanden geäußerte Kritik (siehe vor allem P.H.J. Essers, Amoreel of immoreel?, WFR 2018/2) und die darauffolgende Diskussion hat das Finanzministerium dann doch noch zum Umdenken bewogen. In einem Brief teilte das Ministerium mit, dass die Ghetto-Zahlungen zu den freigestellten öffentlich-rechtlichen Zahlungen gezählt werden müssen. Gesetzliche Maßnahmen hält man aber nicht für notwendig.
Der Autor dankt seinem Studenten Philip Nicolaas Savidis für die Unterstützung.