Global Taxes Europäisches Steuerrecht
Rainer Prokisch

Minijobs als grenzüberschreitendes Problem

Geringfügige Beschäftigungen, häufig Minijobs genannt, haben sich etabliert und öffneten vielen Arbeitslosen in den vergangenen Jahren Türen. Die gewünschte Flexibilisierung des Arbeitsmarkts hat der Gesetzgeber sicher erreicht, auch wenn sich in Zeiten einer annähernden Vollbeschäftigung die Frage stellt, ob nicht zumindest Minijobs, die als Zweitjob zur Ergänzung der Einkünfte dienen, noch sinnvoll sind. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit liegt die Gesamtzahl der geringfügig Beschäftigten derzeit bei rund 7,5 Millionen – für knapp fünf Millionen von ihnen ist es der Hauptjob. Der Vorteil: Der Arbeitnehmer muss darauf keine Steuern und Sozialabgaben zahlen. Das kann sich allerdings in grenzüberschreitenden Fällen als besonders problematisch erweisen.

Sozialversicherungspflicht beim Minijob

Ausländer, die in Deutschland einen Minijob annehmen und in ihrem Heimatstaat keine weiteren Einkünfte beziehen, sind nach der EU Sozialversicherungsverordnung Nr. 883/2004 (in Altfällen VO 1408/71) in Deutschland sozialversicherungspflichtig und können auch nur in Deutschland die Leistungen der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung geltend machen („lex loci laboris-Prinzip“). Der Minijobber ist trotz des Arbeitgeberbeitrags nicht kranken- oder pflegeversichert, er erwirbt keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld und bis 2013 auch keine Rechte in der Rentenversicherung (§ 8 SGB IV). Ab 2013 besteht zwar Rentenversicherungspflicht, der Arbeitnehmer kann aber für eine Befreiung optieren. Außerdem hat der Minijobber kein Recht auf Zahlung von Kindergeld weder in Deutschland noch in den Niederlanden. Zudem zahlt er in Deutschland keine Steuern.

Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht

Die Frage, ob diese Rechtslage mit Gemeinschaftsrecht vereinbart werden kann und ob der Wohnsitzstaat nicht subsidiär zur Berücksichtigung dieser Zeiten für die Rentenversicherung zuständig ist, hat in letzter Zeit die niederländischen Gerichte und den EuGH beschäftigt. Es geht in allen Verfahren um die Frage, ob die Niederlande subsidiär – wegen des Fehlens von Ansprüchen auf Rente, Arbeitslosengeld oder Kindergeld in Deutschland – für die soziale Sicherung der Anspruchssteller zuständig werden.

In der Rechtssache Giesen/Van den Berg hatte – etwas vereinfacht – der Antragssteller gefordert, seine niederländische Mindestaltersrente ungekürzt zu empfangen. Die niederländischen Behörden hatten die Zeiten der Minijob-Tätigkeit in Deutschland nicht berücksichtigt, was zu einer niedrigeren Rente führt. In der Rechtssache Franzen geht es darum, ob die Niederlande verpflichtet sind Kindergeld zu zahlen, wenn Deutschland als Tätigkeitsstaat kein Kindergeld gewährt.

EU-Sozialversicherungsrecht kennt keine geteilte Zuständigkeit

Der zunächst zuständige Verwaltungsrat („Centrale Raad van Beroep“, CVrB v. 1.7.2013, nrs. 08/5412 AKW-P, 08/6650 AOW-P, 09/6430 AOW-P) hatte die Frage schon im ersten Verfahrensgang dem EuGH vorgelegt. Der EuGH entschied (EuGH v. 23.4.2015, C-382/13 – „Franzen u.a.“), dass auch schon eine sehr geringe Beschäftigung zur Sozialversicherungspflicht in Deutschland führt. Entsprechend den Grundsätzen des Sozialversicherungsrechts in der EU gäbe es auch keine geteilte Zuständigkeit. Der Antragsteller war also ausschließlich in Deutschland verpflichtet und berechtigt. Die Niederlande seien auch nicht verpflichtet, die Lücken aufzufüllen. Allerdings seien die Niederlande auch nicht durch EU-Recht daran gehindert, in diesen Fällen eine Sozialleistung zu gewähren. Im Ergebnis war allerdings nicht ganz eindeutig, ob dies lediglich eine bloße Befugnis von Mitgliedstaaten bedeutete, zusätzliche Leistungen zu gewähren, oder ob es sich um eine Pflicht handelte, die nicht aus der Verordnung sondern aus europäischem Primärrecht herzuleiten wäre.

Der Centrale Raad van Beroep (U. v. 6.6.2016, nr. 08/6650 AOW, nr. 09/6430 AOW) gab dem Antragsteller recht und verpflichtete den niederländischen Sozialversicherungsträger die volle Rente zu zahlen. Die Revision zum Hoge Raad (U. v. 2.2.2018, nrs. 16/03746, 03747, 03748, V-N 2018/9.12) führte dazu, dass das Gericht wegen der offenen Frage diese nochmals dem EuGH vorlegte. Das Gerichte wollte wissen, ob es nicht doch gegen Gemeinschaftsrecht verstoße, wenn die Niederlande Sozialleistungen nicht gewähren im einem Fall, in dem ein Bürger im Ausland geringfügige Tätigkeiten ausübt.

Beachte | Der EuGH hielt sich in seiner Letztentscheidung zurück (EuGH v. 19.9.2019, C-95/18; C-96/18 – verbundene Rs. Van den Berg/Giesen/Franzen, ZESAR 2020, 170 m. Anm. Becker) und lehnte es ab, aus der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit Konsequenzen für das System der Sozialrechtskoordinierung insgesamt zu ziehen. Die Generalanwälte hatten das noch anders gesehen, in der Rs. Franzen meinte Generalanwalt Szpunar der fehlende soziale Schutz verstoße gegen Primärrecht und in der Rs. Giesen/Van der Berge hielt Generalanwältin Sharpston den Verlust an jeglicher sozialer Sicherung für nicht verhältnismäßig, da die Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu bilateralen Vereinbarungen und zu anderen nationalen Gestaltungen nicht genutzt hätten.

Zahlung von Kindergeld

Um Kindergeld geltend machen zu können, muss der Bürger entweder in Deutschland Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben oder fiktiv unbeschränkt steuerpflichtig sein, da mehr als 90% seiner Einkünfte in Deutschland steuerpflichtig sind und seine ausländischen Einkünfte nicht für den Abzug personen- oder familienbezogenen Steuererleichterungen ausreichen (§ 62 Abs. 1 EStG). Nach dieser Regelung können Minijobber mit Wohnsitz im Ausland grundsätzlich kein Kindergeld beantragen, da sie schon in Deutschland nicht steuerpflichtig sind. Zwar zahlt der Arbeitgeber eines Minijobbers einen pauschalen Steuerbetrag, dieser wird dem Arbeitnehmer jedoch nicht als persönliche Steuerschuld zugerechnet. Deutschland ist auch für das Kindergeld zuständig, da es als Familienleistung im Sinne des Gemeinschaftsrechts gilt.

Hinweis | Wegen der fehlenden Steuerpflicht können theoretisch auch steuerrechtliche Probleme entstehen. Sollte ein Land dem Beispiel Deutschlands folgen und Einkünfte aus unselbständiger Tätigkeit einer subject-to-tax-Klausel unterwerfen, unterlägen die Einkünfte in Deutschland keiner Besteuerung und würden dementsprechend im Wohnsitzland des Arbeitnehmers besteuert. Das aber würde den Minijob in Deutschland völlig unattraktiv machen.

Fazit Es besteht Handlungsbedarf. Die Rechtsprechung des EuGH zeigt, dass Deutschland hier in der Verantwortung steht. Deutschland muss sicherstellen, dass in den Fällen des grenzüberschreitenden Minijobs die soziale Sicherung des Arbeitnehmers greift. Es mag zugegebenermaßen nur um einige wenige Einzelfälle gehen. Es bedarf allerdings für eine Lösung der Probleme auch keiner Gesetzesänderung, die nachteiligen Folgen der geltenden Rechtslage ließen sich ebenso durch ergänzende Vereinbarungen mit Nachbarländern vermeiden.

Aber die Problematik erlaubt auch Folgerungen für das Gesetzgebungsverfahren im Allgemeinen. Der Bundestag sollte sich selbst verpflichten, bei allen zu erlassenden Gesetzen die berechtigten Interessen von Grenzgängern zu berücksichtigen. Heutzutage finden die Probleme der Grenzregionen in Gesetzgebungsverfahren viel zu wenig Aufmerksamkeit.