Global Taxes Außensteuerrecht
Gerhard Kraft

Niemand hatte die Absicht, die ATAD umzusetzen – bis die CDU so schwach wurde, dass die SPD sich stark fühlte

Die Paraphrasierung des berühmten Satzes von Walter Ulbricht im Zusammenhang mit dem Mauerbau 1961 mochte im Kontext der Umsetzung einer EU-Richtlinie in deutsches Recht überzogen anmuten. Gleichwohl befiehl den unvoreingenommenen Beobachter das ungute Gefühl, der aktuelle deutsche Gesetzgeber sei ähnlich hilflos wie die DDR-Machthaber vor 60 Jahren. Die Wahrnehmung legislatorischer Hilflosigkeit betreffend die Umsetzung der EU-Steuervermeidungsrichtlinie vom 12.7.2016 (ATAD) erschien deshalb nicht unbegründet, als diese als zwingend umzusetzendes Sekundärrecht bis zum 31.12.2018 in deutsches Recht zu transformieren war! Sämtliche EU-Mitgliedstaaten – mit Ausnahme Deutschlands – hatten diese Umsetzungsfrist eingehalten, häufig minimalinvasiv. Bemerkenswert war dies insbesondere für eine Regierungskoalition, deren Koalitionsvertrag den pathetischen Titel „Ein neuer Aufbruch für Europa“ trägt. 

Ein historischer Tag

Nunmehr passierte – für viele Beobachter der Szene doch einigermaßen überraschend – an einem Tag, der als historisch in die Zeitgeschichte eingehen wird, doch der Regierungsentwurf eines ATAD-Umsetzungsgesetzes durch das Bundeskabinett. Historisch wird dieser Tag nicht deshalb, weil die ATAD-Umsetzung nun doch endlich auf den Weg gebracht wurde. Historisch wird dieser Tag, weil die Bundeskanzlerin an diesem Tag zum ersten Mal in ihrer 16-jährigen Amtszeit einen Fehler zugegeben hat. Die Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens ausgerechnet an diesem Tag steht unter keinem guten Stern, mit Blick auf die ATAD hätte die Kanzlerin gleich noch weitere Fehler zugeben müssen.

Das Menetekel, so die Auguren, könnte sich auf eine seitens des kleinen Koalitionspartners wahrgenommene Schwäche des großen Koalitionspartners gründen – honi soit qui mal y pense. Denn bereits die in § 8 Abs. 3 des AStG-Entwurfs verortete Referenzschwelle der Niedrigbesteuerung fördert einen Kardinalfehler zutage, der den Verdacht nährt, dass Ideologie in der Steuergesetzgebung wichtiger geworden ist als eine realistische Rezeption einer globalisiert organisierten Weltwirtschaft. Das oftmals kolportierte Lieblingskind von Bundsfinanzminister Scholz, die 25%-Grenze der Niedrigbesteuerung, ist so sehr aus der Zeit gefallen, dass der Noch-Vizekanzler dem Vorbild der Noch-Kanzlerin nacheifern und dafür bei den Bürgerinnen und Bürgern um Verzeihung bitten sollte. 

Schon jetzt können einem die Fachbeamten aus dem Bundesfinanzministerium Leid tun, die diesen legislatorischen Fehlgriff mit blumigen Worten aus der Phrasenwolke verteidigen werden müssen. Jeglicher juristische und ökonomische Sachverstand musste von einer derart antiquierten Niedrigsteuergrenze abraten. Dass mit dem nunmehr in das Gesetzgebungsverfahren einbiegende Machwerk – wie der Regierungsentwurf unter „B. Lösung“ vollmundig ankündigt – die „Hinzurechnungsbesteuerung reformiert und zeitgemäß und rechtssicher ausgestaltet“ wird, kann nun wirklich keine Expertin und kein Experte ernsthaft vertreten, die oder der sich nicht dem Vorwurf der Realitätsverweigerung aussetzen möchte.

BMF sah keinen Umsetzungsbedarf bei der ATAD

Es wurde in der Vergangenheit immer wieder kolportiert, Deutschland habe seine Umsetzungsverpflichtungen bereits weitgehend erfüllt, da hierzulande eine engmaschige Hinzurechnungsbesteuerung weite Bereiche abdecke. Dementsprechend wird offenbar auch im BMF – wird der nunmehrige Regierungsentwurf eines ATAD-Umsetzungsgesetzes zugrunde gelegt – davon ausgegangen, dass Deutschland bereits heute weitgehend die von der ATAD vorgegebenen Mindeststandards erfüllt. Eine mittlerweile wohl nicht einmal mehr vom BMF ernsthaft verfolgte, zeitweise wohl doch favorisierte Sprachregelung, soll sogar davon ausgegangen sein, man sehe sich gar nicht im Umsetzungsverzug, da die geltenden Regelungen der deutschen Hinzurechnungsbesteuerung dem Mindestschutzniveau der Richtlinien-Vorgaben entsprächen. Dass dies selbstredend nicht ernsthaft vertreten werden kann, belegt der Umstand, dass bei Vertretbarkeit einer solchen Meinung Deutschland bereits am 1.1.2019 – dem Tag nach Ablauf der Umsetzungsfrist der ATAD – die Kommission davon in Kenntnis setzen müssen, es bestehe kein Umsetzungsbedarf. Da eine derartige Notifikation unterblieben ist, scheint man sich auch im BMF bewusst zu sein, dass Umsetzungsbedarf besteht.

Im Übrigen ist hinlänglich bekannt und unionsrechtlich ausdiskutiert, dass solche Situationen, in denen ein Umsetzungserfordernis von EU-Richtlinien nicht besteht, äußerst selten sind. Dementsprechend verlangt die EuGH-Rechtsprechung mitgliedstaatliches Tätigwerden bezüglich der Richtlinien-Umsetzung, wenn der in einem Mitgliedsstaat bestehende Rechtszustand nicht bereits den Vorgaben der Richtlinie entspricht. Die ATAD gibt teilweise günstigere Regelungen als die bis 31.12.2018 geltende Hinzurechnungsbesteuerung vor. Deshalb ist sie insoweit zwingend umzusetzen.

Da hilft dem deutschen Gesetzgeber auch das sogenannte Mindeststandard-Argument nichts. Dieses baut darauf auf, dass die ATAD lediglich Mindeststandards formuliere und jeder Mitgliedsstaatengesetzgeber über die Mindeststandards der ATAD hinausgehen könne.

Beispiel | Nach der ATAD liegt der Referenzsteuersatz für eine Niedrigbesteuerung bei der Hälfte des Körperschaftsteuersatzes. Indessen kann jeder Mitgliedsstaatengesetzgeber eine höhere Mindeststeuerreferenzschwelle formulieren, wie es in Deutschland mit den aberwitzigen und vollkommen aus der Zeit gefallenen 25% im § 8 Abs. 3 AStG immer wieder versucht wird. Der defiziente deutsche Gesetzgeber vermag sich somit nicht zu exkulpieren. Denn offensichtlich können Mindeststandards nur für umgesetzte Richtlinien gelten. Der Mindeststandard der Richtlinie dispensiert Deutschland als Mitgliedstaat mitnichten von der aus seiner Loyalitätspflicht resultierenden Umsetzungsverpflichtung. Man darf gespannt sein, ob und wie Gerichte diesbezüglich in den Jahren 2018 und 2019 die klare Regelung der ATAD an der Judikatur des EuGH spiegeln werden.

Untätigkeit zeigt Züge von Politikversagen

Von den Mitgliedsstaaten nicht fristgerecht umgesetzte Richtlinien haben den Gerichtshof der Europäischen Union schon häufig beschäftigt. Der EuGH hat hierzu eine stabile und robuste Judikatur entwickelt, deren zentrale Konstruktionselemente in einer unmittelbaren Wirkung der Richtlinie bestehen. Voraussetzung ist, dass eine Richtlinie innerhalb der Umsetzungsfrist nicht oder nur unzulänglich umgesetzt worden sind, und inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt sind. Im Fall der ATAD ist davon ohne weiteres auszugehen. Der gesetzgeberische Totalausfall trägt Züge eines massiven Politikversagens, wenn man eine allgemein akzeptierte Definition zugrunde legt.

Politikversagen wird üblicherweise umschrieben mit einer überzogen stark oder unterdurchschnittlich schwach reagierenden Legislative, die – verkörpert durch die Politiker in den Parlamenten – objektiv notwendigen Handlungsbedarf für eine Gesetzgebung oder Gesetzesänderung nicht erkennt. Politiker verharren in entsprechenden Situationen – trotz Kenntnis des Sachverhalts – entweder in Untätigkeit oder sie verfallen in Hyperaktionismus. Dies gilt angesichts der Tatsache, dass ein maßvoller, regulierender Eingriff von einem erheblichen Teil der Bürger als notwendig erachtet wird und es den Politikern aufgrund einer entsprechenden Parlamentsmehrheit oder Regierungsverantwortung auch tatsächlich möglich wäre, zu handeln. Angesichts dieser Umschreibung dürfte der Vorwurf, die nicht erfolgte Umsetzung der ATAD trage Züge von Politikversagen, nicht völlig unberechtigt sein.

Zum Schluss Sollte die – judikative -Zukunft die Befürchtung bestätigen, dass Unionsbürger und Unionsunternehmen gegenüber Deutschland als Mitgliedsstaat Schadensersatzansprüche geltend machen können, weil die ATAD nicht fristgerecht in nationales Recht umgesetzt wurde, wäre das ein verheerendes Zeugnis für die politisch Verantwortlichen. Zu solchen sogenannten mitgliedsstaatlichen Staatshaftungsansprüchen hat der Gerichtshof in der Vergangenheit bereits häufig Mitgliedsstaaten verurteilt. Ein Schelm, wer denkt, die politisch Verantwortlichen würde das persönlich betreffen. Die Zeche zahlt der Steuerzahler!

Die Begleitumstände der ATAD-Umsetzung spiegeln das wahrgenommene aktuelle Regierungshandeln im politischen Umgang mit der Pandemiebewältigung. Immerhin: hörte die Politik in der Coronakrisenbewältigung noch auf genehme Experten, die in der Vergangenheit den wissenschaftlichen Sukkurs der Regierungsmaßnahmen geliefert haben, hat die Politik bezüglich der ATAD-Umsetzung auf die Rezeption fachwissenschaftlicher Expertise mit autokratischer Souveränität verzichtet. Der seinerzeitige BFH-Richter Hellwig hat bereits 1973 das AStG als eine Problembereicherung für die Fachwelt bezeichnet. Dieser Befund hat sich mit dem Regierungsentwurf der ATAD-Umsetzung in beeindruckendem Maße fortifiziert. Der steuerberatende Beruf sollte den Verantwortlichen in höchstem Maße Dank zollen.