Global Taxes Konzernsteuerrecht
Gerhard Kraft

Steuerliches Einlagekonto für Drittstaatstochtergesellschaften

Die nähere Betrachtung der jüngeren Judikatur des EuGH zur Auslegung der Kapitalverkehrsfreiheit im unternehmenssteuerlichen Drittstaatenkontext nährt die Vermutung, dass sich das Unionsrecht partiell zum Weltsteuerrecht weiterentwickelt. Denn sowohl der räumliche als auch der inhaltliche Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 AEUV – mit ihrem Drittstaatenbezug – haben mittlerweile die Konzernbesteuerung erreicht. Der Drittstaatenbezug dieser jüngsten europäischen Grundfreiheit beschränkt sich – insoweit im Gegensatz zu den anderen Grundfreiheiten – nicht nur auf das Verbot von Diskriminierungen zwischen den Mitgliedstaaten. Sie umfasst vielmehr auch die Beziehungen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten.

Kapitalverkehrsfreiheit im Konzernsteuerrecht

Allein die Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung der letzten beiden Jahre dokumentiert den Bedeutungsanstieg der Kapitalverkehrsfreiheit im Konzernsteuerrecht, insbesondere in Bezug auf die Strukturierung von Beteiligungen und Dividendenströmen aus Beteiligungen. So hat der Gerichtshof erkannt, die Art. 63 bis 65 AEUV seien dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die eine Kürzung um die Gewinne aus Anteilen an einer Kapitalgesellschaft mit Geschäftsführung und Sitz in einem Drittstaat an strengere Bedingungen knüpft als die Kürzung um die Gewinne aus Anteilen an einer nicht steuerbefreiten inländischen Kapitalgesellschaft. Diese Einschätzung des EuGH hat den deutschen Gesetzgeber gezwungen, die vormalige Monstervorschrift des gewerbesteuerlichen Konzernsteuerrechts, den § 9 Nr. 7 GewStG, auf ein semantisch und intellektuell anwendbares Maß zurückzustutzen.

Weiterhin hat die Große Kammer des EuGH die grundsätzliche Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit durch die deutsche verschärfte Hinzurechnungsbesteuerung für Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter im Drittstaatenfall bestätigt. Schließlich hat der Gerichtshof Dividenden, die von einer gebietsansässigen Gesellschaft an gebietsansässige und gebietsfremde Pensionsfonds ausgeschüttet werden, am Maßstab der Kapitalverkehrsfreiheit beurteilt. Er ist zum Ergebnis gelangt, dass insoweit eine Beschränkung zu bejahen ist.

Von hoher Praxisrelevanz sind die Ausführungen des Gerichtshofs zur Problematik, ob nach Art. 64 Abs. 1 AEUV „Standstill“ eingetreten ist. Der Standstill-Problematik kommt bekanntlich lediglich im Bereich der Kapitalverkehrsfreiheit Bedeutung zu. Bezüglich der Auslegung des Art. 64 AEUV verneint der EuGH die Anwendung der Stand-Still-Klausel prinzipiell und kategorisch, wenn eine belastende Regel für Gebietsfremde oder eine entlastende Regel für Gebietsansässige nach dem 31.12.1993 substantiell verändert wurde. Die vom Gerichtshof zu entscheidende Frage ging somit dahin, ob Deutschland zwar eine verbotene Beschränkung des freien Kapitalverkehrs ins Werk gesetzt hatte, die indessen – wegen Standstill – ohne negative Folgen für den Mitgliedstaat bleibt.

Beachte | Nach Einschätzung des EuGH ist kein Standstill eingetreten, weil die deutsche Dividendenbesteuerung durch den Übergang vom Anrechnungsverfahren auf das Teileinkünfteverfahren im Jahr 2000 strukturell verändert wurde.

Einlagenrückgewähr von Drittstaatentochtergesellschaften

Selbstverständlich kann die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts von diesen Entwicklungen nicht unbeeindruckt bleiben. Erst kürzlich hat der I. Senat des BFH mit Urteil vom 10.4.2019 im Verfahren I R 15/16 bestätigt, dass im Inland ansässige Steuerpflichtige, die Leistungen aus Drittstaatengesellschaften erhalten, welche nach hiesiger steuerlicher Beurteilung als steuerfreie Einlagenrückgewähr qualifizieren, am Maßstab der der Kapitalverkehrsfreiheit zu beurteilen sind. Die vom BFH als zentral angesehene und zu beantwortende Rechtsfrage hatte sich damit auseinanderzusetzen, ob Kapitalrückzahlungen einer US-amerikanischen Tochtergesellschaft bei der im Inland ansässigen Muttergesellschaft als Dividenden oder als Einlagenrückgewähr zu qualifizieren waren und im Falle einer Einlagenrückgewähr die Zuwendungen der US-Tochter an die Inlandsmutter gewinnneutral zu erfassen seien.

Aufgrund der skizzierten Rechtsprechung sind auch von Drittstaatentochtergesellschaften geleistete Einlagenrückgewährungen bei dem im Inland ansässigen Anteilsinhaber erfolgsneutral mit dem Buchwert der Beteiligung zu verrechnen. Das Urteil schließt sich an die Rechtsprechung anderer Senate an (vgl. etwa BFH, Urt. v. 13.7.2016 – VIII R 73/13). Das vom BFH entwickelte Ergebnis lässt sich im Übrigen unter Anlegung ökonomischer Überlegungen rechtfertigen. Denn aus betriebswirtschaftlicher Perspektive bestehen keine Zweifel daran, dass eine Kapitalrückzahlung auf der Empfängerebene steuerfrei behandelt werden sollte. Dass diesem gesicherten Befund Formalaspekte des Normwortlauts entgegenstehen, ist nicht zu bestreiten. Gleichwohl überzeugt die unionsrechtlich fundierte Sichtweise des BFH bezüglich des steuerlichen Einlagekontos, die zu einer ökonomisch rationalen Lösung im Allgemeinen und der Kapitalverkehrsfreiheit im Besonderen gefunden wurde. Fraglos hat der BFH mit seinem Urteil die Bedeutungszunahme dieser Grundfreiheit ein weiteres Mal unterstrichen.

Die Rezeption der EuGH-Judikatur in der Entscheidung des BFH zum steuerlichen Einlagekonto für Drittstaatstochtergesellschaften bedeutet zugleich, dass etliche Akteure Hausaufgaben bekommen haben. Im Inland ansässige Anteilsinhaber, die an Drittstaaten-Gesellschaften Beteiligungen erwerben oder halten, sollten sich veranlasst sehen, die Kapitalkonten bzw. die Kapitalpositionen ihrer Beteiligungsgesellschaften zu durchforsten, um die „retained earnings“ sowohl vom „nominal capital“ als auch vom „additional paid-in-capital“ bzw. vom „capital surplus“ zu separieren. Dies in Einzelfällen bedingt, Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückzuverfolgen, erleichtert diese Aufgabe nicht.

Zum Schluss | Der Gesetzgeber sollte sich im Nachgang zur BFH-Entscheidung veranlasst sehen, auch das Verfahrensrecht rechtssicher zu öffnen. Insbesondere ist insoweit ein Feststellungsverfahren für Drittstaatengesellschaften anzumahnen, welches sich zugleich auch auf vergleichbare EU-Sachverhalte erstreckt. Die Konkretisierung des materiellen Bezugsrahmens der Einlagekonto-bezogenen Differenzrechnung bei ausländischen Gesellschaften sollte ebenso idealerweise legislatorisch fundiert werden. Angesichts der schieren Zahl von Drittstaateninvestments von im Inland ansässigen Anteilsinhabern stellt die Regelung der steuerrechtlichen Einlagenrückgewähr durch den Gesetzgeber mehr als nur steuerliches „Klein-Klein“ dar. Sie erweist sich zur erhöhten Rechtssicherheit als unabdingbar.