Rechtsetzung der EU – Verblasst der Geltungsanspruch des Art. 3 Abs. 1 GG?
Durch den neuerlichen Vorstoß in Sachen CC(C)TB und die Umsetzung des BEPS-Projekts durch die beiden Anti-Tax-Avoidance-Richtlinien (ATAD I und II) haben die Anstrengungen zur weiteren Angleichung der Unternehmensbesteuerung wieder an Momentum gewonnen. Von früheren Harmonisierungsakten, die vor allem die Vermeidung der Doppelbesteuerung in Konzernstrukturen und damit Bereiche betrafen, die bereits abkommensrechtlich geregelt waren, unterscheidet sich die Anti-Missbrauchs-Gesetzgebung strukturell mitunter erheblich.
Denn es handelt sich nicht selten um rechtfertigungsbedürftige Abweichungen von der Regelbesteuerung, deren Ausgestaltung sich Staaten stets vorbehalten haben. Wirken mit Anwendungsvorrang ausgestattete Rechtsakte der Union in diese Sphäre hinein, zieht dies nicht nur einen etwaigen Anpassungsbedarf des innerstaatlichen Rechts nach sich. Sie stellen auch die Über-prüfung von Steuergesetzen am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG vor neue Herausforderungen.
Zinsschranke dürfte verfassungswidrig sein
Illustrieren lässt sich dies am Beispiel der Zinsschranke des § 4h EStG (i.V.m. § 8a KStG), die der erste Senat des Bundesfinanzhofs (I R 20/15) für verfassungswidrig hält. Seinen Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht vom 15.2.2016 (Az. beim BVerfG 2 BvL 1/16) begründete der Senat damit, dass die in der Zinsabzugsbeschränkung liegende Abweichung vom objektiven Nettoprinzip nicht gerechtfertigt sei. Ein zentraler Grund hierfür sei, dass die Zinsschranke – anders als vom Gesetzgeber vorgebracht – nicht der Verbesserung der Eigenkapitalausstattung deutscher Unternehmen diene. Aufgrund der Freigrenze von 3 Mio. € fände sie nämlich auf als solche krisenanfälligere kleine und mittlere Unternehmen von vornherein keine Anwendung.
ATAD I-Richtlinie übernimmt Zinsabzugsverbot
Man kann schon von Ironie der Geschichte sprechen, dass wenige Monate später im Rahmen der Umsetzung des BEPS-Projekts die ATAD I-Richtlinie verabschiedet wurde, deren Art. 4 eine Regelung über die Beschränkung der Abzugsfähigkeit von Zinszahlungen enthält, die im Wesentlichen mit § 4h EStG übereinstimmt. So sind überschüssige Fremdkapitalkosten in dem Zeitraum, in dem sie anfallen, nur bis zu 30 % des Ergebnisses vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (EBITDA) abzugsfähig. Daneben finden sich in der Richtlinie weitere vertraute (fakultative) Bausteine wie etwa die Freigrenze in Höhe von 3 Mio. €, die Befreiung konzernfremder Gesellschaften vom Zinsabzugsverbot oder auch der zeitlich begrenzte Zinsvortrag.
Während die Auswirkungen der Richtlinie auf die einfachgesetzliche Lage zu vernachlässigen sind, hat die „Aufwertung“ der §§ 4h EStG und 8a KStG zu Akten der Umsetzung von Sekundärrecht gravierende Folgen: So mag das Bundesverfassungsgericht die Zinsschranke entsprechend der Vorlage des Bundesfinanzhofes für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklären. Dienen die genannten Regelungen aber zukünftig der Umsetzung von Sekundärrecht, wird das Bundesverfassungsgericht sie entsprechend der „Solange“-Rechtsprechung nicht mehr am Maßstab des Grundgesetzes messen, soweit dem Gesetzgeber durch die Richtlinie kein Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung eröffnet wird.
Hinweis | Soweit ein solcher Spielraum besteht, bleibt es dagegen bei der uneingeschränkten verfassungsrechtlichen Überprüfung.
Rechtliche Würdigung der Umsetzung der Richtlinie
Wie aber ist das Nebeneinander der Umsetzung obligatorischer und fakultativer Bestandteile der Richtlinie rechtlich zu würdigen? So stellt sich etwa hinsichtlich der fakultativen Freigrenze von 3 Mio. € die Frage, ob die Aufnahme einer solchen Grenze ins nationale Recht verfassungsrechtlich zulässig oder gar geboten ist. Denn es lässt sich argumentieren, dass die Freigrenze, die durch die Richtlinie angeordnete Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips für kleine und mittlere Unternehmen „zurücknimmt“ und so letztlich einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit dient. Bemerkenswert: Die Freigrenze diente so gerade der Verwirklichung einer verfassungsgemäßen Ausgestaltung der Zinsschranke, während sie – jedenfalls nach Auffassung des ersten Senats des Bundesfinanzhofes – bei rein innerstaatlicher Betrachtung einer Rechtfertigung der Zinsschranke entgegensteht.
Beachte | Folgte man dieser Auffassung, wäre der „Makel der Verfassungswidrigkeit“ insoweit auf dem Umweg des Sekundärrechts beseitigt – und die Wirkkraft des allgemeinen Gleichheitssatzes erheblich reduziert.
Quintessenz | Weiter gedacht mag man sich die Frage stellen, ob die Lücke der grundrechtlichen Überprüfung hinsichtlich des obligatorischen Regelungsgehalts der Richtlinien dereinst durch den EuGH geschlossen werden wird, etwa am Maßstab des Art. 20 der EU-Grundrechtscharta. Das eigentliche Problem aber ist nicht die eingeschränkte Bedeutung der Grundrechte, die letztlich im Wesen der europäischen Integration liegt. Problematisch ist vielmehr der Ansatz der unionalen Rechtsetzung: Solange die EU Einzelfragen nach Maßgabe einer sogenannten best practice zu lösen sucht, ohne sich an den Besteuerungsprinzipien der Mitgliedstaaten zu orientieren, wird es zu einem weiteren Verblassen der Systematik des ohnehin zunehmend von Einzelfallregelungen durchzogenen Ertragsteuerrechts kommen.