Change- of-Control-Regeln und objektives Nettoprinzip
Mit Urteil vom 28.06.2018 hat der EuGH den Beschluss der Europäischen Kommission aus dem Jahre 2011 zur sog. Sanierungsklausel nach § 8c Abs. 1a KStG für nichtig erklärt. Sofern es sich um Anteile an einem Unternehmen handelt, das sich in einem Insolvenzverfahren befindet, sieht diese Regelung eine Ausnahme vom Verlustuntergang im Falle eines Anteilseignerwechsels vor. Die EU-Kommission hatte hierin einen Verstoß gegen das europäische Beihilferecht nach Art. 107 Abs. 1 AEUV gesehen.
Voraussetzungen für Verlustuntergang
Die Voraussetzungen für den Verlustuntergang wurden daraufhin mit Einführung von § 8d KStG zwischenzeitlich im Sinne von „Change-of-Control-Regeln“ überarbeitet. Diese Regeln koppeln eine weitere Nutzung von Verlustvorträgen an die Bedingung der Fortführung eines Geschäftsbetriebes. Für Unternehmen in wirtschaftlichen Krisensituationen sind Regelungen zur steuerlichen Verlustnutzung von großer Bedeutung; hiermit problematisch eng verknüpft ist die Neuregelung der Besteuerung von Sanierungsgewinnen.
Hinweis | In einer Stellungnahme vom 13.08.2018 in Form eines sog. „Comfort Letters“ sieht die EU-Kommission in der stark an den Sanierungserlass angelehnten Neuregelung des § 3a EStG allerdings keine verbotene Beihilfe im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts.
Beide Regelungsbereiche verlangen eine Abgrenzung subventionierender von diskriminierenden Normen. Der EuGH bezieht sich hierzu in seiner Begründung zur Zulässigkeit der Sanierungsklausel auf ein Referenzsystem und führt aus, dass sowohl die Kommission als auch das Gericht der Europäischen Union „fälschlicherweise allein die Regel des Verfalls von Verlusten als Referenzsystem im Sinne der Rechtsprechung … eingestuft“ habe. Demgegenüber sei aber die Fortführung eines Verlustvortrages bei einem Wechsel der Anteilseignerstruktur als Regelfall anzusehen, der Untergang die Ausnahme. Der Frage nach den geeigneten Kriterien für ein solches Referenzsystem soll nachfolgend nachgegangen werden.
Das objektive Nettoprinzip
Das objektive Nettoprinzip wird regelmäßig als fundamentaler Maßstab für die Abgrenzung der steuerlichen Bemessungsgrundlage herangezogen. Dieses Prinzip ist aus steuerrechtlicher Sicht zur Konkretisierung der verfassungsmäßig gebotenen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit akzeptiert und lässt sich grundsätzlich auch ökonomisch analysieren. Sein steuersystematischer Kern betrifft die Zuordnung zwischen Bestandteilen der steuerlichen Bemessungsgrundlage, die diese erhöhen und solchen, die sie vermindern.
Wird das objektive Nettoprinzip so abgegrenzt, dass unternehmerische Entscheidungen über Investitionsprojekte durch die Unternehmensbesteuerung nicht verändert werden, löst die Besteuerung keine Lenkungswirkung aus, wodurch ein Referenzpunkt für eine neutrale Regelung festgelegt wäre. Dies erfordert für in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft durchgeführte Investitionsprojekte, die hiermit in Zusammenhang stehenden Rückflüsse – ebenso wie alle investiven Ausgaben – dem Projekt zuzurechnen. Durchbrechungen des objektiven Nettoprinzips können eine Diskriminierung oder Förderung ökonomischer Aktivitäten bedeuten und auch unerwünschte Folgen nach sich ziehen. Wird beispielsweise die Übertragung von Anteilsrechten steuerlich diskriminiert, kann die Fortführung sanierungsfähiger Unternehmen ausbleiben.
Referenzsystem bei Verlustverrechnung
Für die hier interessierende Besteuerung von Sanierungserträgen und die Verrechnung von Verlusten erfordert ein solches Referenzsystem, Regeln symmetrisch auszugestalten: Dies impliziert einen vollständigen Verlustausgleich und fordert zudem eine vollständige Abzugsfähigkeit von Zinszahlungen. Im Insolvenzzustand bedeutet dies, dass Erträge aus dem Wegfall einer Verbindlichkeit auf Seiten des Schuldnerunternehmens die Bemessungsgrundlage erhöhen und Verluste durch die ausfallende Forderung auf der Seite des Gläubigers dessen steuerliche Bemessungsgrundlage mindern. Sofern Verluste aus der investiven Tätigkeit noch nicht verrechnet sind, muss auch in Folge eines Wechsels der Anteilseigner deren Verrechnung erfolgen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie im Falle einer Sanierung – beabsichtigt ist, den Geschäftsbetrieb fortzuführen.
Würden vorhandene Verlustvorträge untergehen, obwohl der Geschäftsbetrieb der Unternehmung fortgeführt werden soll, treibt die Besteuerung einen Keil zwischen die Grenzpreisforderung des Veräußerers und dem gebotenen Grenzpreis des Erwerbers. Es entsteht ein steuerlicher Lock-In Effekt, der den Wechsel von Eigentumstiteln diskriminiert (im Detail Schreiber 2014). Ein Untergang finaler Verluste ist demgegenüber konsequent, der Handel mit sog. Verlustmänteln löst daher auch keinen Steuererstattungsanspruch aus der Verrechnung übernommener Verluste aus.
Beachte | Andernfalls würde eine Unternehmensneugründung durch die Nutzung einer Verlustverrechnung aus bereits abgeschlossenen Investitionsprojekten subventioniert.
Der Gesetzgeber formuliert Regeln nach dem „Change-of-Control Konzept“, die die Nutzung von nicht verrechneten Ausgaben an die Fortführung eines Geschäftsbetriebes koppeln, wie beispielsweise in § 8d KStG und bei der Neufassung des § 3a EStG. Derartige Regeln finden sich aber auch bei der erbschaftsteuerlichen Verschonung von familiären Unternehmensübertragungen.
Ökonomische Zusammenhänge
Häufig können sich ökonomisch verzerrende Wirkungen der Besteuerung gegenseitig kompensieren. Im Ergebnis ist dann mit keiner (deutlichen) Entscheidungsverzerrung zu rechnen. Die Neuregelung der Insolvenzbesteuerung stellt Sanierungserträge zunächst grundsätzlich steuerfrei. Dieser steuerfreie Betrag wird durch Verlust- und Zinsvorträge reduziert. Materiell entspricht dies einer steuerlichen Erfassung von Sanierungserträgen und einer steuerlichen Abzugsfähigkeit von Zinszahlungen sowie der noch nicht verrechneten Ausgaben aus der Investitionstätigkeit; nur der Sanierungsgewinn wird somit steuerlich nicht belastet. Die ökonomischen Zusammenhänge sind allerdings im Falle der Verrechnung von Zins- und Verlustvorträgen differenziert zu sehen:
Beispielsweise können Holding-Gesellschaften mit steuerfreien Finanzerträgen und abzugsfähigen Zinszahlungen über hohe Zinsvorträge verfügen. Die Zinsvorträge entstehen aufgrund der Zinsschrankenregelung des § 4h EStG und können untergehen, wenn aufgrund eines Wechsels des Geschäftsbetriebes die „Change-of-Control-Regeln“ eine Übertragung ausschließen. Allerdings entsteht hierdurch keine Entscheidungsverzerrung, wenn dieser Diskriminierung eine Begünstigung aufgrund eines steuerfreien Sanierungsgewinns in anderen Situationen gegenübersteht, in denen der Sanierungsertrag den Zinsvortrag übersteigt.
Die Anwendung der Sanierungsklausel des § 8c KStG im Falle einer Unternehmensfortführung führt zu einer steuerlichen Förderung der Fremdfinanzierung in der Insolvenz. Dies wird – funktionierende Kreditmärkte vorausgesetzt – zu einem Anstieg der Fremdfinanzierung und zu einer Erhöhung des Insolvenzrisikos führen. Für ein realwirtschaftlich tätiges Unternehmen, dessen Investitionsprojekte hohe Anlaufverluste hervorrufen, führen hohe Verlustvorträge gemäß § 10d EStG allerdings zu einer anderen Situation: Einem untergehenden Verlustvortrag steht der Förderung der Fremdfinanzierung durch den steuerfreien Sanierungsertrag nur dann keine Investitionsverzerrung gegenüber, wenn der Geschäftsbetrieb endet und neue Projekte begonnen werden.
Derartig finale Verluste bedeuten „versunkene Kosten“ und sind daher ohne Entscheidungsrelevanz. Falls die Finanzverwaltung die Situationen nicht korrekt identifiziert, kann aber die Fortführung von Verlustvorträgen fälschlicherweise nicht anerkannt werden. Dieses Problem taucht beim Untergang eines Zinsvortrages nicht auf, da hier die verzerrende Wirkung des Untergangs durch die Steuerfreiheit des Sanierungsertrages kompensiert wird. Die Kompensation einer Verzerrung im investiven Bereich durch eine Verzerrung der Finanzierungswege würde eine eindeutige Bindung von Investitionsprojekten an eine jeweilige Finanzierung voraussetzen; dies scheint unter modernen Kapitalmarktbedingungen wirklichkeitsfern. Insoweit entstehen durch hohe steuerliche Verlustvorträge höhere Risiken als im Falle untergehender Zinsvorträge.
Folgen für Ausgestaltung des objektiven Nettoprinzips
Es scheint plausibel, dass die Wahrscheinlichkeit, den Übergang der Verlustnutzung fälschlich nicht anzuerkennen mit der Höhe des Verlustvortrages ansteigt. Ansteigende Verlustvorträge verschärfen somit das beschriebene Problem. Es liegt nahe, die Regeln so zu formulieren, dass Verlustvorträge auf ein Minimum begrenzt werden. Dies verlangt andere Regeln als sie die derzeitige Mindestbesteuerung nach § 10d EStG vorsieht. Stattdessen wären Regeln geeignet, die den Anreiz zur sofortigen Verlustverrechnung erhöhen: Beispielsweise Verlustrückträge verstärkt zu ermöglichen und Vorträge nur zu gestatten, wenn zuvor die Möglichkeit zum Rücktrag ausgeschöpft wurde.
Beachte | Das Risiko eines nicht zu rechtfertigenden Verlustuntergangs kann den Eigentümerwechsel diskriminieren und so auch die Fortführung von sanierungsfähigen Unternehmen.
Frage nach der Informationsverteilung
Sofern bisherige Eigentümer genauer einschätzen können, ob der alte Geschäftsbetrieb noch fortgeführt werden kann und damit der Verlustübergang steuersystematisch geboten ist, die neuen Eigentümer aber schlechter informiert sind, kann die Funktionsfähigkeit eines Marktes für Unternehmensübernahmen eingeschränkt werden: Es werden vermehrt Unternehmen angeboten, für die die Verlustnutzung mit hoher Wahrscheinlichkeit untersagt wird, also Unternehmen mit sehr hohen Verlustvorträgen. Derartige Probleme lassen Transaktionskosten ansteigen, da Vertragsverhandlungen umfangreiche Due-Diligence-Prüfungen und Steuerklauseln einbeziehen werden.
Begegnen ließe sich diesem Problem möglicherweise durch Regeln, die alten Eigentümern die Steuererstattung aus der steuerlichen Verlustverrechnung zurechnen. Sie werden dann entsprechend ihre Preisforderung um den Verlustausgleich senken, wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, die Steuererstattung zu erhalten. Ähnlich Regeln finden sich in §15a UStG für den Vorsteuererstattungsanspruch.
Fazit | Das objektive Nettoprinzip ist ein zentraler Bestandteil der Unternehmensbesteuerung. Konkretisieren lässt sich dieses Prinzip auch durch eine Anknüpfung an Kontrollrechte für unternehmerische Entscheidungen. Investitions- und Finanzierungsentscheidungen können allerdings unterschiedliche Konsequenzen haben; diese Unterschiede sollten Regelungen zur Verlustverrechnung berücksichtigen. Die derzeitige Ausgestaltung der Verlustverrechnung in § 10d EStG ist in dieser Hinsicht kritisch zu beurteilen.