Global Taxes Europäisches Steuerrecht
Rainer Prokisch

Mindestbesteuerung in der EU und die Frage der Gesetzgebungskompetenz

Am 12. Dezember 2022 haben die EU-Mitgliedstaaten der Richtlinie zur globalen Mindestbesteuerung prinzipiell zugestimmt, Ungarn hat seinen Widerstand am Ende doch noch aufgegeben (RICHTLINIE (EU) 2022/2523 des Rates vom 14. Dezember 2022 zur Gewährleistung einer globalen Mindestbesteuerung für multinationale Unternehmensgruppen und große inländische Gruppen in der Union, ABl. EU 2022, L 328/1). Das Projekt war von Anfang an eine Herzensangelegenheit der deutschen Bundesregierung und soll nun helfen, den Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen. Der Mindeststeuersatz wird auf 15% festgelegt. Erfasst sind allerdings nur besonders große Unternehmen (jährlicher Umsatz höher als 750 Mio €).

Mindestbesteuerung belastet mit weiterer Bürokratie

Eine Mindestbesteuerung ist durchaus zu begrüßen. Schon der Rudingausschuss unter der Beteiligung von Prof. A. Rädler (Report of the Committee of Independent Experts on Company Taxation, 1992) hatte eine Mindeststeuer innerhalb der EU vorgeschlagen. Der Vorschlag wurde damals zwar kurz in der Literatur diskutiert, hatte aber kaum Aussicht auf Umsetzung. Zu viele Länder waren strikt gegen eine Mindeststeuer. Geändert hat sich das erst kürzlich als es auf OECD/Inclusive Framework-Ebene gelungen war, das Projekt einer Mindestbesteuerung (Pillar Two – GloBE („Global Anti-Base Erosion Model Rules“)) mit der Neuverteilung von Besteuerungsrechten zugunsten von Marktstaaten (Pillar One) zu verbinden. Die enge Verknüpfung hat dazu geführt, dass die Mindeststeuer darauf hoffen kann, dass sie doch noch weltweit eingeführt werden wird, obwohl sie zu einer Vielzahl von praktischen und rechtlichen Problemen führen und die betroffenen Unternehmen mit weiterer Bürokratie stark belasten wird. Ob das angesichts der geringen zusätzlichen Steuereinnahmen gerechtfertigt ist, erscheint äußerst zweifelhaft. Die OECD behauptet zwar eine deutliche Steigerung der staatlichen Einnahmen, aber es spricht einiges dafür, dass die Mehreinnahmen nicht in den Ansässigkeitsstaaten der Konzernzentralen, sondern in den Niedrigsteuerländern erzielt würden.

Gesetzgebungskompetenz der EU

Nicht nur die OECD arbeitet an dem Projekt, auch die EU-Kommission sah sich veranlasst tätig zu werden. Am 22.12.2021 legte sie den Vorschlag für eine Richtlinie über das allgemeine Mindeststeuerniveau für multinationale Konzerne in der EU vor (COM(2021) 823final). Eine Richtlinie sei notwendig, da die Regelungen der Mindeststeuer in allen Mitgliedstaaten einheitlich und kohärent gelten müssten und es Anpassungen bedürfe, um die Einhaltung der Niederlassungsfreiheit zu gewährleisten.

Die Begründung für eine Notwendigkeit einer Richtlinie ist aus mehreren Gründen wichtig. Zum einen hat die EU nur dann eine Gesetzeskompetenz, wenn die Begründung stichhaltig ist und die Voraussetzung für die Kompetenz stützen kann. Zum anderen unterliegt die Kommission einer Begründungspflicht, die ernst genommen werden muss.  

Die Gesetzgebungskompetenzen der EU sind limitiert (Art. 5 EUV). Im Bereich der direkten Steuern ist die EU auf Art. 115 AEUV angewiesen, die Grundnorm zur Rechtsangleichung des Art. 114 AEUV kommt nicht zur Anwendung, da Abs. 2 Steuern ausdrücklich von der Rechtsangleichung ausnimmt. Art. 115 AEUV nennt Steuern nicht ausdrücklich, aber erlaubt eine Angleichung der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften, wenn ohne Angleichung das „Funktionieren des Binnenmarkts“ nicht sichergestellt wäre. Die Gesetzeskompetenz setzt also voraus, dass sich Unterschiede in den nationalen Rechtssystemen auf den Binnenmarkt auswirken. Mit anderen Worten hat die EU nur dann eine Gesetzgebungskompetenz, wenn es für das Funktionieren des Binnenmarkts notwendig ist, die nationalen Rechtsvorschriften vollständig oder teilweise zu vereinheitlichen.

Anforderungen der Begründungspflicht

Die Kommission ist verpflichtet, Gesetzgebungskompetenz und die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu begründen (Art. 296 AEUV). Dabei geht es nicht nur darum irgendeinen Grund anzugeben, sondern der Gesetzgebungsakt muss im Hinblick auf die Voraussetzungen gerechtfertigt werden. Wenn man sich nun die Begründung der Kommission zur Mindeststeuerrichtlinie ansieht, muss man Zweifel bekommen, ob die Kommission ihre Begründungspflicht erfüllt. Die Beeinträchtigung des Binnenmarkts wird einfach behauptet, ohne dass angegeben würde, warum eine Beeinträchtigung vorliegt oder warum die Rechtsangleichung einen Vorteil bringen sollte. Ein Wettbewerbsnachteil innerhalb des Binnenmarkts wird nicht mal behauptet. Im Übrigen ist die Rechtsprechung des EuGH hier sehr deutlich: Die Angabe eines Grundes ist nicht ausreichend, vielmehr muss sich die Begründung im Einzelnen auf den Rechtsakt beziehen und die Gründe müssen den Tatsachen entsprechen (EuGH Urteil v. 26.9.2002, C- 351/98, Spanien vs. Kommission, Slg. 2002, I-8031, Tz. 82). Die (hier vorliegende) Verletzung der Begründungspflicht führt zur Aufhebung bzw. Ungültigkeit des Rechtsakts (Art. 263 und 267 AEUV).   

Die EU-Kommission scheint davon auszugehen, dass jegliche Unterschiede in den nationalen Steuervorschriften automatisch zu einer Störung des Binnenmarkts führen. So heißt es im Explanatory Memorandum der Richtlinie über die Mindeststeuer, dass die Abwesenheit von entsprechenden mitgliedstaatlichen Vorschriften eine Beeinträchtigung des Binnenmarkts zur Folge hätte. Das ist aber so nicht richtig, der Wortlaut des Art. 115 AEUV ist eindeutig. Nicht jede Harmonisierung von Rechtsvorschriften ist zulässig, vielmehr bedarf es des Nachweises, dass ohne die Harmonisierung der Binnenmarkt beeinträchtigt wäre. Das entspricht auch der Rechtsprechung des EuGH, der vor allem in der Tabakwerbungsentscheidung die Kriterien genannt hat, welchen eine EU-Gesetzgebung genügen muss, die sich auf Art. 115 AEUV stützen will (EuGH Urteil v. 5.10.2000 – C-367/98, BRD vs. EP/Rat, Slg. 2000 I-08419, Tz. 83ff.).

Rechtsangleichung ist nicht notwendig

Im Fall der Mindeststeuerrichtlinie ist eine Rechtsangleichung innerhalb der EU für das Funktionieren des gemeinsamen Marktes aus mehreren Gründen nicht notwendig. Die Mindeststeuer beruht auf einer Empfehlung der OECD/Inclusive Framework, die bereits sehr detailliert die Einzelheiten der Mindestbesteuerung vorgibt und der die EU-Richtlinie eng folgt. Da nahezu alle Mitgliedsländer der EU der OECD-Empfehlung zugestimmt haben, führt die Einführung der Mindeststeuer ohnehin zu einer gleichmäßigen Gesetzeslage, nationale Sonderwege sind nicht zu befürchten. Der Wettbewerb innerhalb der EU wird durch die Nichtangleichung nicht beeinträchtigt. Die Mindeststeuer ist ein Projekt, das weltweit gelten soll. Eine europäische Gesetzgebung führt hier nur zu weiteren Komplizierungen, möglichen Konflikten und nimmt den Mitgliedsländern Optionen, die sie auf der Grundlage der OECD Empfehlung hätten. Zudem ist die Arbeit der OECD noch nicht abgeschlossen (so hat die OECD im Dezember 2022 ein „Implementation Package“ veröffentlicht, das wichtige Abweichungen von den ursprünglichen Empfehlungen enthält). Die EU-Richtlinie setzt damit eine Rechtslage, die möglicherweise nicht den endgültigen Vorschlägen der OECD entspricht. Es ist nicht erkennbar, was eine Harmonisierung auf EU-Ebene an zusätzlichen Vorteilen für den Binnenmarkt liefern kann. Der EU fehlt kurz gesagt die Gesetzgebungskompetenz für die Richtlinie über die Mindeststeuer. Vielmehr nutzt die Kommission das günstige Momentum, um weitere Harmonisierungsschritte auf dem Gebiet der direkten Steuern in die Wege zu leiten und so die Tatsache zu umgehen, dass die EU auf diesem Gebiet keinerlei Kompetenzen besitzt.

Beachte | Gleichzeitig verletzt die EU das in Art. 5 EUV festgelegte Subsidiaritätsprinzip.

Es ließe sich allerdings argumentieren, dass die fehlende Kompetenz durch das Einverständnis aller Mitgliedsländer geheilt würde. Das ansonsten öfter beklagte Einstimmigkeitsprinzip würde sich so zu einer Ausweitung der EU-Gesetzgebungskompetenzen wandeln. Ein solches Verständnis ließe sich aber wohl nicht mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbaren. Jedenfalls führt aber die allgemeine Zustimmung dazu, dass weder ein Mitgliedsland noch eine EU-Institution die fehlende Kompetenz der EU geltend machen kann. Lediglich ein nationales Gericht könnte gegebenenfalls die Frage dem EuGH vorlegen.

Die EU-Richtlinie soll außerdem die Mindeststeuer an die Erfordernisse der Niederlassungsfreiheit anpassen. Der OECD-Vorschlag sieht die Einkünfteeinbeziehung (Income Inclusion Rule) logischerweise nur für ausländische Gesellschaften vor. Die Kommission meint, man müsse nun aus Gründen der Vermeidung von Ungleichbehandlungen auch inländische verbundene Unternehmen einbeziehen, auch wenn das letztlich völlig systemwidrig erscheint. Auch wenn die Niederlassungsfreiheit tatsächlich beschränkt sein sollte, bedarf es für die Vermeidung von Ungleichbehandlungen keiner EU-Richtlinie. 

Richtlinie schafft Präsedenzfall

Der Richtlinie fehlt es nicht nur an einer Rechtsgrundlage, sie schafft auch einen gefährlichen Präsedenzfall. Der im Richtlinienvorschlag enthaltene Art. 54 ermächtigt die EU, internationale Vereinbarungen mit Drittländern abzuschließen. Die nötige Kompetenz hierfür lässt sich auf Art. 3 Abs. 2 und Art. 216 Abs. 1 AEUV stützen. Danach kann die EU eine Vertragsabschlusskompetenz in Anspruch nehmen, wenn Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern Auswirkungen auf einheitliches europäisches Recht haben oder dessen Anwendungsbereich ändern könnten (sog. AETR-Doktrin). Das mag im Rahmen der Richtlinie zur Mindestbesteuerung praktisch nur wenig relevant sein. Aber angesichts der Bemühungen der EU-Kommission auf dem Gebiet der Unternehmensbesteuerung zu weitreichenden Harmonisierungen zu kommen, besteht die Gefahr, dass die EU in Zukunft auf diesem Gebiet nicht nur die interne Gesetzgebungskompetenz für sich in Anspruch nehmen will, sondern auch die externe Vertragsabschlusskompetenz. Das könnte für die Rechtsangleichung im Rahmen der ersten Säule (OECD Pillar One) beispielsweise bedeuten, dass nicht die Mitgliedsstaaten, sondern die EU das multilaterale Abkommen abschließen muss. Darüber hinaus kann die weitreichende Rechtsangleichung in der EU sogar dazu führen, dass sich die Kompetenz zum Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen weg von den Mitgliedstaaten hin zur EU bewegt. Es scheint mir, dass sich die Mitgliedsstaaten nicht bewusst sind, dass die fortschreitende Harmonisierung der Unternehmenssteuern Souveränitätsverluste bei der Vertragsschließungskompetenz zur Folge haben kann.  

Zum Schluss | Die Richtlinie zur Mindestbesteuerung ist nicht nur inhaltlich zu kritisieren, der EU fehlt für ihren Erlass auch schlichtweg die Gesetzgebungskompetenz. Da aber alle Mitgliedsländer zugestimmt haben, wird es innerhalb der EU dennoch zur Rechtsangleichung kommen. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Die Kommission arbeitet viel zu hektisch an neuen Gesetzgebungsvorhaben und bringt damit selbst fundamentale Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts in Gefahr.